Ein Liechtensteiner Athlet berichtet über die Teilnahme an der Sommerolympiade in Berlin (I)


Erster Teil einer dreiteiligen Artikelserie im "Liechtensteiner Volksblatt" [1]

18.8.1936

Erlebnisse der Liechtensteiner Olympiamannschaft in Berlin

(Von einem Teilnehmer) [2]

Nach der feierlichen Begrüssung am Anhalter Bahnhof bestiegen wir einen Militäromnibus und fuhren durch die festlich geschmückten Strassen der Stadt Berlin. So oft die Fahrt an einem sehenswerten Gebäude oder Denkmal vorbeiführte, machte uns Herr Baron [Woldemar] von Falz-Fein darauf aufmerksam. Trotzdem wir alle des Schlafs würdig waren, behielten wir die Augen doch immer stramm offen, denn keiner wollte sich etwas entgehen lassen. Nach einstündiger Fahrt näherten wir uns endlich dem olympischen Dorfe. Als wir dort ankamen, wurden wir wieder von einer grossen Menschenmenge begeistert empfangen; ein hoher Reichswehroffizier hielt eine kurze Begrüssungsansprache, und hierauf wurde unter den Klängen der Volkshymne unsere geliebte Flagge gehisst. Dieser Akt war so feierlich und überwältigend, dass wohl jedem von uns die Augen feucht wurden. Nach dieser Feier wurde das Gittertor, das das olymp. Dorf von der Aussenwelt trennt, geöffnet und wir hielten feierlichen Einzug in das Dorf des Friedens. Voran marschierte eine Militärkapelle, und ausserdem bestand das Gefolge noch aus einer Anzahl Teilnehmern, die bereits vor uns das olymp. Dorf bezogen hatten. Vor dem Hause "Limburg", in welchem wir unser Standquartier aufschlugen, wurde wieder die Liechtensteiner Volkshymne gespielt und am Flaggenmast vor dem Hause die blau-rote Fahne hochgezogen.

Die angenehmen Überraschungen wollten kein Ende mehr nehmen. Wie entzückt war doch jeder von uns, als man uns die sauberen und freundlichen Wohnzimmerchen anwies. In jedem Zimmerchen standen zwei Betten, zwei Kleiderschränke, ein Tisch und Stühle. Die meisten Häuschen hatten 14 solcher Wohnzimmerchen und ausserdem noch einen grösseren Aufenthalts- sowie Wasch- u. Baderaum. Da unsere Mannschaft bei weitem nicht das ganze Haus benötigte, wurden in demselben noch einige Griechen sowie auch Franzosen untergebracht. Trotzdem aber so eine internationale Gesellschaft beisammen war, fühlte sich doch jeder wie zu Hause. Ein besonders lustiger Kumpel war unser Hauswart. Er ist Seemann und konnte uns daher stundenlang spannende Geschichtchen erzählen. Die Bedienungsmannschaft setzte sich überhaupt nur aus solchen Leuten zusammen, die schon in der ganzen Welt herumkamen u. mit den Sitten und Bräuchen anderer Völker vertraut sind.

Als wir unsere Habseligkeiten verstaut hatten, begaben wir uns sofort zum Restaurationsgebäude, denn unsere Magen knurrten schon bedenklich. Unser Ehrendienstoffizier, Hauptmann von Rhaden, sorgte dafür, dass wir bald etwas zwischen die Zähne bekamen. Jede grössere Nation erhielt im Wirtschaftsgebäude einen Raum für sich. Selbstverständlich war die Liechtenst. Mannschaft zu klein, um einen eigenen Wirtschaftsraum beanspruchen zu können, und so mussten wir eben unsere Plätze mit den Luxemburgern teilen. Gleich bei der ersten Mahlzeit konnten wir feststellen, dass hier auch die Speisekarte so reichhaltig war, dass selbst der verwöhnteste Feinschmecker auf seine Rechnung gekommen wäre.

Nach dem Mittagessen unternahmen wir einen Spaziergang, der uns kreuz und quer durchs olympische Dorf führte. Wir sahen, mit welcher Sorgfalt und Mühe alles hergerichtet wurde, um den fremden Gästen den Aufenthalt möglichst angenehm zu gestalten. Ein idyllischer Teich wurde angelegt, ganze Bäume versetzt und so die ehemalige Heide in ein Paradies verwandelt.

 

 

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[1] L.Vo., Nr. 96, 18.8.1936, S. 2. Der zweite Teil erschien im L.Vo., Nr. 97, 20.8.1936, S. 1 ("Erlebnisse der Liechtensteiner Olympiamannschaft in Berlin"), der dritte im L.Vo., Nr. 98, 22.8.1938, S. 1 ("Erlebnisse der Liechtenst. Olympiade-Mannschaft in Berlin"). Die Serie wurde verfasst von Xaver Frick oder Oskar Ospelt.
[2] Die Liechtensteiner Mannschaft bestand aus zwei Leichtathleten (Sprint und Diskus), einem Radfahrer und drei Schützen. Zu den Resultaten vgl. L.Vo., Nr. 90, 4.8.1936, S. 2 ("Von unseren Olympia-Teilnehmern"), Nr. 96, 18.8.1938, S. 2 ("Von unserer Olympiamannschaft").