Veröffentlichung einer Einsendung im „Liechtensteiner Volksblatt“ [1]
11.12.1920
Christentum und Sozialismus
(Eingesandt)
3. Sozialistische Theorie und Praxis
Über das „Himmelreich" auf Erden, das durch den Sozialismus verwirklicht werden soll, haben Sozialistenführer, z.B. [August] Bebel, phantastische Träume niedergeschrieben. Wenn einmal die Revolution die kapitalistische Weltordnung mit allem was drum und dran hängt, gestürzt habe, dann werden alle glücklich sein. Arme wird es nicht mehr geben; denn für alle werde gut gesorgt sein. Jeder werde gerne arbeiten, was ihm zukomme. Die Volksschulen werden auf eine viel höhere Stufe gebracht werden können. Die Menschen werden auch viel besser werden. Verbrecher werde es nicht mehr geben. Polizei und Zuchthäuser brauche man nicht mehr. Herr Pfarrer [Paul] Pflüger in Zürich hat seine Hoffnung kundgegeben, der Sozialismus sei berufen, das Himmelreich, von dem Jesus Christus gesprochen habe, auf Erden zu verwirklichen. Ja phantastische Träume!
Gegenüber diesen Theorien haben wir nun die sozialistische Praxis und Wirklichkeit an einem Exempel im Grossen vor uns, in Russland. Was ich im folgenden schreibe, habe ich aus zwei Artikeln im schweiz. „Demokrat" vom 11. und 13. September 1920 entnommen: „Die Wahrheit über Russland." „Auf dem Lande wie in den Städten und Industriezentren Russlands lagen die Verhältnisse für eine proletarische Erhebung durch die eigenartige Schichtung der Bevölkerung günstiger, als in irgend einem andern Land der Welt." In Stadt und Land konnte [Wladimir Iljitsch] Lenins zündende Parole: Enteignet die Enteigner! Plündert die Plünderer! Raubt das Geraubte! ohne grosse Widerstände wörtlich befolgt werden. Wie die Bauern das Land der Gutsherren so nahmen die Industriearbeiter die Werke und Betriebe der Kapitalisten unmittelbar an sich. Das war die erste Zeit der bolschewistischen Revolution, in der das Wort: „Alle Macht den Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten!" alles beherrschte. Diese Zeit ist heute längst vorüber. Sie hat kaum ein Jahr gedauert. In ihr kamen die bolschewistischen Führer zu der niederdrückenden Erkenntnis, dass weder die Bauernmasse in den Dörfern, noch die Mehrheit des Industrieproletariates für die demokratische Selbstverwaltung der Wirtschaft und des Staates in sozialistischem Sinne reif und fähig war. Die Bolschewisten standen vor der Alternative, entweder ihren kühnen Versuch aufzugeben oder ihre Methode zu ändern. Sie taten das letztere, um sich allein in der Herrschaft halten zu können. „Sie gingen Schritt für Schritt dazu über, ein System des staatlichen Zwanges auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens einzuführen. Dabei mussten sie aus einer Diktatur des Proletariates eine Diktatur über das Proletariat machen."
Diese Diktatur über das Proletariat wird mit einem blutigen Terror aufrecht erhalten. Der Demokrat berichtet, dass in einem Monat 893 Personen auf Geheiss der ausserordentlichen Kommissionen erschossen worden seien, ausser den „administrativen" Erschiessungen. Es scheint, dass die letztern unzählbar seien. Um diese terroristische Diktatur Lenins und [Leo] Trotzkis aufrecht zu erhalten, ist die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und auch das Wirtschaftsleben militarisiert worden. Wer sich der Militärpflicht entzieht oder desertiert, der wird, sobald er erwischt wird, erschossen. Arbeiter und Angestellte dürfen nicht streiken, sonst werden sie als „Deserteure der Arbeitsfront" in Konzentrationslagern zur Arbeit gezwungen.
Nur wer Mitglied der Kommunistenpartei ist, hat Anwartschaft auf irgend ein Amt in der Sowietbureaukratie. „Die ganze Partei verwandelt sich allmählich in ein Heer von Bureaukraten." Wo früher 10 bis 12 Beamte gefaulenzt haben, dort stünden sich jetzt 60 bis 80 gegenseitig im Wege, so wurde dem sozialistischen Gewährsmann bezeugt. „Unfähigkeit, Sabotage und Korruption sucht man vergebens aus diesem riesigen bureaukratischen Apparat auszuschalten."
Ferner wird bezeugt, die industrielle Produktion sei auf ein Fünftel bis ein Sechstel zurückgegangen.
„Pressfreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit und persönliche Freiheit sind für andere als Kommunisten so gut wie aufgehoben. Die Wahlen zu den Sowietkörperschaften erfolgen öffentlich in Versammlungen; geheime Wahl ist verboten. Die Wahlen sind meist indirekte und erfolgen unter terroristischem Drucke, so dass eine Opposition schwer aufkommen kann. Unbequeme Wahlen werden kassiert." „Von einer rationellen Durchführung der Sozialisierung kann man leider nicht reden."
Das sind die Geständnisse im „Demokrat" über das sozialistische Experiment in Russland. Zudem wird zugestanden, das sei noch nicht die volle Wahrheit. Man könne aus den Berichten von Genossen, die in Russland gewesen sind, noch sehr vieles zwischen den Zeilen lesen. Hiezu wird wohl unter anderem auch die anderwärts bezeugte Tatsache gehören, dass unter diesem sozialistischen Regiment, die Teuerung, der Wucher und jede Art der Schelmerei auf das Höchste gestiegen ist.
Die Sozialistenherrschaft in Russland ist blutiger Hohn auf den Namen „Sozialdemokratie". Sie ist vielmehr eine absolutistische Herrschaft und Blutregiment zugleich, wie beides in der Weltgeschichte, selbst in der Blütezeit des selbstherrlichen Absolutismus nicht gefunden wurde. Beachten wir noch: Nach der neuesten Zählung zählt die kommunistische Partei in ganz Russland 604'000 Mitglieder, also 4 Promille der ganzen Bevölkerung von rund 150 Millionen Einwohnern. Nun beherrschen Lenin und Trotzki zuerst diktatorisch die Kommunistenpartei, von welcher 89 Prozent Staats- und Kommunalbeamte, Militär- und Gewerkschaftsbeamte sind. Und mit Hilfe dieses Beamtenheeres führen Lenin und Trotzki ihr terroristisches Blutregiment über das Proletariat und das ganze Volk von 150 Millionen Einwohnern.
Anstatt die verheissene Freiheit hat nun das russische Proletariat und das ganze Volk vollständige Beraubung jeglicher Freiheit, eine neue Sklaverei. Die Ursache davon, dass die Sozialisierung total fehlgeschlagen hat, und dass nun anstatt Herrschaft des Volkes die blutige Diktatur über das Proletariat verwirklicht ist, soll nun nach den sozialistischen Zeitungen darin liegen, dass die Volksmasse in Russland stupid sei und für die Sozialisierung kein Verständnis habe. Vorher hat man gesagt, dass die Verhältnisse für Durchführung des Sozialismus in Russland günstiger seien als in irgend einem andern Land.
Die Erkenntnis, dass in Russland die Masse des Volkes bei der Sozialisierung versagte, war für die Bolschewiki eine niederdrückende. Das wird aber für sie nicht die letzte niederdrückende Erkenntnis sein. Trotzki hat neulich davon gesprochen, dass die Hungersnot in Russland sich noch viel mehr steigern werde. Er meint aber, wenn auch drei Viertel des russischen Volkes verhungern, die übrigen werden weiter leben und die soziale Revolution verherrlichen. Trotzki und andere werden aber noch zu der niederschmetternden Erkenntnis kommen, dass das russische Volk diese Revolution samt den terroristischen Diktatoren verfluchen wird.
Das arbeitende Volk in andern Ländern, auch in unserer Gegend, sollte sich der Einsicht und Erkenntnis nicht verschliessen, dass es zwar leicht ist, an einer bestehenden Staats- und Gesellschaft Ordnung Unvollkommenes und Mangelhaftes zu kritisieren, leicht, einer Regierung Schwierigkeiten und Verlegenheiten zu bereiten, leicht, in Zeiten, wie wir sie jetzt haben, Unzufriedenheit mit dem Bestehenden zu wecken und schöne Programme zu entwerfen, leicht, Revolution zu machen, aber furchtbar schwer, nach Lösung aller Bande der Ordnung und der Moral, eine neue und bessere Gesellschaftsordnung aufzubauen. „Auf zehn Zerstörer, in einer sozialen Revolution, braucht es zehntausend Aufbauer" hat selbst im „Demokrat", einem sozialistischen Blatt in der Schweiz, einer geschrieben. Daher sollte das arbeitende Volk mit seinen demokratischen Institutionen das Losungswort haben: Mitarbeit an sozialen Reformen, aber niemals das Losungswort: Revolution. Wie in Russland, würde auch in jedem andern Lande eine durchgeführte Revolution ganz andere Wirkungen haben, als die Führer versprechen, nicht Freiheit, sondern Diktatur über das Proletariat, nicht Wohlstand, sondern Hungersnot und Elend auf lange Zeit, nicht sozialistisches Himmelreich, sondern eine sozialistische Hölle auf dieser Erde.