Die „Oberrheinischen Nachrichten“ kritisieren die „traurige Bolschewikihetze“ gegen den Liechtensteinischen Arbeiterverband im „Liechtensteiner Volksblatt"


Veröffentlichung einer Zusendung in den „Oberrheinischen Nachrichten“ [1]

13.11.1920

Schweizer-Brief

Es wird uns von einem seit vielen Jahren in der Schweiz niedergelassenen Arbeiter geschrieben: Mit grosser Anteilnahme habe ich die Behandlung der liechtensteinischen Arbeiter in der Landespresse verfolgt. Da ich kein Gelehrter bin und auch nicht nach rechts oder links zu liebäugeln habe, möchte ich mir nachfolgende Bemerkungen erlauben.

Seinerzeit ist in diesem Blatte zur „Arbeiterbewegung" ein Artikel erschienen, mit dem ich trotz der unfachmännischen Kritik von anderer Seite vollständig einig gehe. Den als Wanderarbeiter in die Schweiz ziehenden Arbeiter kann man unmöglich ohne weiteres mit dem hier wohnenden in jeder Beziehung auf eine Linie stellen. Der Liechtensteiner will vor allem verdienen, verdienen und nochmals verdienen. Es handelt sich für ihn um die Lohn- und damit um die Magenfrage. Das Verdienstproblem und damit die privatwirtschaftliche Seite ist schlechthin ausschlaggebend und nicht etwa die politische oder religiöse Seite des Sozialismus. Wer den Arbeitern Verdienst verschafft, wer ihm ermöglicht, zu einigermassen anständigem Lohne in der Heimat zu arbeiten, der ist der wahre Freund des Arbeiters. Der Verdienst in der Heimat wird manche nicht mehr veranlassen, in die Schweiz zu ziehen, sondern daheim bei seiner Familie zu bleiben und unter einer ausschliesslich katholischen Bevölkerung zu leben. Nicht das Vereine-gründen im Lande allein, nicht die langen Vorträge über angebliche Gefahren, die dem in der Schweiz um sein Brot schwitzenden Arbeiter drohen, helfen dem Arbeiter auch nur zu einem Rappen. Man helfe dem Arbeiter, die Heimat zur Arbeitsheimat zu machen. Geistliche und weltliche Behörden seien eingeladen, in diesem Sinne nach oben und unten zu wirken. Die liechtensteinischen Arbeiter sind im allgemeinen als tüchtig und fleissig bekannt. Ein solcher Arbeiter hat aber sicherlich keine Zeit für eine Minderheit in der Schweiz, mag er innerlich noch so sehr ihr nahe stehen, kämpfend einzutreten. Die Schulden der Familie zu Hause kann der Arbeiter nicht damit bezahlen, dass er sich als Ausländer in der Schweiz stark in die gewerkschaftlichen Kämpfe eingelassen und so ideale Güter aufzuweisen hat. Daheim will und braucht man Geld und setzt voraus, dass es anständig verdient wurde, weiter frägt niemand darnach.

Mit Recht ist in diesem Blatte gesagt worden, der liechtensteinische Arbeiter habe in der Schweiz gar nichts zu politisieren. Es ist gerade etwas Anwiderndes, wenn Leute aus politisch tiefer stehenden Staaten in die Schweiz kommen, dort die politischen Einrichtungen nicht oder nur halb verstehen und sofort den Sauerteig ihrer unangebrachten Kritik ansetzen. Das sieht und liebt der aufrechte Schweizer nicht gern. Dies mit Recht: wer die Gastfreundschaft geniesst, soll sich auch als Gast benehmen. Was gehen denn unsere Arbeiter aus Liechtenstein die politischen Kämpfe und Ziele der extremsten Sozi an? Nichts. Aber kein Liechtensteiner Arbeiter gibt sich für russische Rätekultur her. Dies trotz des neuesten Beschlusses des Vorstandes der schweizerischen sozialdemokratischen Partei. Wer in Liechtenstein etwas anderes bewusst direkt oder indirekt behauptet, der hausiert mit Lügen und will wohl etwas ganz anderes erreichen, als er vorgibt. In der Schweiz mögen die Schweizer und nur diese, in Liechtenstein die Liechtensteiner und nur diese politisieren: das gilt besonders für zu laute Ausländer im Lande draussen. Reichlich genug politischen Schlamm gibt es im Lande noch aufzuräumen und da wollen doch die Arbeiter im Verein mit den fortschrittlichen Bauern und Gewerblern Hand ans Werk legen, die Heimat durch Heimatangehörige regieren und verwalten lassen. Sie alle gehören in die Klasse des „kleinen Mannes", sie alle kennen die Schmerzen schwieliger Hände - und sie alle wissen, dass die Arbeit in manchen sogen. besseren Kreisen Liechtensteins noch mit der mittelalterlichen Minderwertigkeit der Auffassung zu kämpfen hat. Wenige, sehr wenige kümmerten sich sonst in unserem Lande um das Arbeiterlos, heute aber will alles dem Arbeiter helfen – auf dem Papier! Es ist Passion geworden. Wie lange sie anhält? Bis etwas anderes auftaucht oder gewisse, heute noch unausgesprochene Absichten verwirklicht sind.

Vor nicht langer Zeit las ich in einem Blatte, dass geistliche und weltliche Behörden zusammenarbeiten müssen gegen den Beschluss und seine Tendenzen der Sektion der Bauarbeiter des liechtenstein. Arbeiterverbandes auf Anschluss an den schweizerischen Bauarbeiterverband. Welche weltliche Behörde und was soll sie tun? Da müsste man die Herren denn doch näher ansehen. Im Zeitalter der erwachenden liechtensteinischen Demokratie mit ihrer Forderung nach freien Vereins- und Versammlungsrecht will man auch im Lande mit der Polizei kommen. Andere dürfen sich organisieren, wie sie wollen, nur die heute so gehätschelten Arbeiter aber sollen dies nicht tun dürfen. Politisch, meine Kollegen, haltet im Lande zu einer Partei, die Euch zu Eurem Rechte im Nahmen des Zuträglichen verhilft. Wäre es nicht einzig dastehend, wenn Ihr Arbeiter noch rückständigen Machenschaften aufhelfen oder sie erhalten solltet! Ihr seid Liechtensteiner und sollt im Lande politisieren, nicht sozialistisch, aber im Sinne eines gesunden demokratischen Fortschrittes wie die Volkspartei. Beim jetzigen Kampfe geht es nicht um die Versüssung der sauer verdienten Arbeiterbatzen. Darüber haben die Herren, die sich plötzlich um Euch kümmern, weil sie von Land und Gemeinden gesicherte Gehalte beziehen, zu denen auch Ihr beiträgt, wenig Einsicht. Entzweien und sprengen will man Euch, weil man Eure Organisation als Macht fürchtet. Organisiert Euch erst recht und haltet zusammen.

Zwei verschiedene Dinge sind Sozialismus als Weltanschauung und soziale Bewegung. Als Weltanschauung findet der Sozialismus weder draussen im Lande noch unter den hiesigen Landesarbeitern keinen Anhang. Das wissen die Herren so gut als ich. Aber vergessen wir nicht, dass man die [Christlich-sozialen] Volkspartei schon früher mit den sozialistischen Schlagworten stets bekämpft hat. In gleicher Weise geschieht dies heute mit der Arbeiterorganisation. Nach Ansicht dieser guten Leute haben wir wenns nur hilft, lauter Sozialisten. Diese Sirenenklänge ziehen wohl bei den wenigsten mehr. Etwas anderes ist es bezüglich der sozialen (nicht sozialistischen und nicht sozialdemokratischen) Stellung, d. h. Verbesserung ihrer Arbeitsverhältnisse, ihres Lohnes, ihrer politischen Rechte u.a. Hier wollen die Arbeiter eine gesunde, für liechtensteinische Verhältnisse angemessene Bewegung einleiten bezw. unterstützen. In der Schweiz hingegen wollen wir gegen Leistung von Arbeit verdienen. Absichtlich oder nicht wirft man Sozialismus und soziale Bewegung zusammen zwecks Anschwärzung von uns Arbeitern. Man leistet sich unbewusste Brunnenvergiftungsarbeit. Den Gegnern der heutigen Arbeiterorganisation kann man nicht absprechen, dass sie Klassengeist und Klassenkampf – herausbeschwören möchten. Dieser Geist und dieser Kampf passen nicht in unsere Bevölkerung, wo die wenigsten dazu veranlagt sind und sie nicht wünschen.

Ob ein zweiter Arbeiterverband entstehe oder nicht, ist gleichgillig. Tatsache aber wird jedenfalls bleiben, dass Arbeiter, die sich hier als Christlichsoziale aufspielen, in der Schweiz sich dorthin wenden, wo sie besser verdienen können. Das wissen alle gut genug.

Arbeiter, helft zusammen und lasst Euch mit dieser traurigen Bolschewikihetze nicht abwendig machen. Es steht fest:

1. Dass in Liechtenstein kein sozialistischer Arbeiterverband ist, noch notwendig ist: alle andern Ausstreuungen sind Lüge;

2. dass Ihr Arbeiter keinen Klassengeist und Klassenkampf wollt und gemeinsam mit den andern Ständen friedlich auskommen wollt; das will man aber im gegnerischen Lager;

3. dass nur die nackte und reine Not die Bauarbeiter zu jenem Beschlusse zwang, nicht hingegen die sozialistische Anschauung; sie wollen verdienen;

4. dass wohl der Fürst [Johann II.] Arbeit im Lande zu verschaffen versprach; dass die andern aber darum sich nicht oder wenig kümmern;

5. dass jeder liechtensteinische Arbeiter sich der demokratischen Richtung an zuschliessen hat, wenn er seine Interessen verfechten sehen will.

Vor allem in Liechtenstein darf unter der sogen. Intelligenz noch reichlich eine andere Auffassung eintreten, bis man zu ihr, die meistens von Staat und Gemeinde bezahlt wird, Zutrauen haben darf.

Einigkeit macht stark! sei der Wahlspruch des kleinen Mannes. Arbeiter, merkt Euch das!

Ein Arbeiter in der Schweiz

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[1] O.N., Nr. 90, 13.11.1920, S. 1. Vgl. L.Vo., Nr. 83, 16.10.1920, S. 1 („Der liechtensteinische Arbeiterbund“); L.Vo., Nr. 87, 30.10.1920, S. 1 („Liechtensteiner Volk sei auf der Hut!“); L.Vo., Nr. 88, 3.11.1920, S. 1 („Der böse Kommunismus“); L.Vo., Nr. 90, 10.11.1920, S. 1 („Die Arbeiterfrage“); O.N., Nr. 84, 20.10.1920, S. 1-2 („Zur Arbeiterbewegung“) und O.N., Nr. 91, 17.11.1920, S. 1 („Liechtensteinischer Arbeiterverband“).