Die liechtensteinische Gesandtschaft in Wien beharrt auf der weiteren Anwendung des Zollvertrages bis zur Rückverlegung der österreichischen Zollwache an die Vorarlberger Grenze


Maschinenschriftliche Abschrift einer Note der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien, gez. Prinz Eduard, an das deutschösterreichische Staatsamt für Äusseres [1]

10.9.1919, Wien

Gegenstand: Auflösung des Zollvertrages mit Liechtenstein [2]

Mit Rücksicht auf die Inanspruchnahme des Staatsamtes durch den bevorstehenden Friedensabschluss [3] habe ich es bis jetzt vermieden, seit der mündlichen Verhandlung vom 18. August [4] neuerlich in obiger Angelegenheit heranzutreten. Infolge verschiedener Vorkommnisse sehe ich jedoch nunmehr gezwungen, darauf zurückzukommen und beehre mich, die Aufmerksamkeit des deutschösterreichischen Staatsamtes auf nachfolgenden Tatsachen zu lenken.

Die fürstliche Regierung verständigt mich, von der Vorarlberger Landesregierung am 2. ds. Mts. nachfolgendes Telegramm erhalten zu haben: „Da Zollgrenze bei Balzers infolge Verhaltens Bevölkerung unbewacht, wodurch Warenverschleppung nach Schweiz gefördert, verfügt Landesregierung bis neue Zollgrenze bezogen, dass alle Waren nur Bewilligung zuständiger Bezirkshauptmannschaft, wie dies bei Schuhen und Decken der Fall ist, nach Liechtenstein gebracht werden dürfen und Sendungen ohne Bewilligung verfallen." [5]

Am gleichen Tage langte bei der Regierung in Vaduz das nachstehende Schreiben der Finanz-Bezirksdirektion Feldkirch, Zahl 20394, auf Abschrift der Depesche des Staatsamtes der Finanzen, Zahl 59613, mit welcher die Räumung der Grenze unter Vermeidung von Konflikten schleunigst durchzuführen und der Grenzschutz gegen Liechtenstein auszugestalten, aufgetragen wurde, ein: „Die Durchführung der mit der Vertragsendigung im Zusammenhange stehenden Arbeiten wird jedenfalls noch den Monat September beanspruchen. Die Direktion wird nicht ermangeln, die fürstliche Regierung über alle Stadien des Abbaues in Kenntnis zu setzen." [6]

Gleichzeitig teilte mir jedoch die fürstliche Regierung mit, dass die ausführenden d.ö. Organe bereits weitergehen, als nach dem angeführten Schreiben der Finanz-Bezirksdirektion anzunehmen wäre, denn nach der abschriftlich beiliegenden Eingabe der Direktion der Fabrik Jenny-Spöry & Co. in Triesen, soll die Einfuhr aus Liechtenstein nach Deutschösterreich bereits dem Zolle unterliegen. [7] Diese Eingabe ist der Finanz-Bezirks-Direktion Feldkirch mit dem in Abschrift mitfolgenden Schreiben übermittelt worden. [8] Selbstverständlich wäre ein derartiges Vorgehen, das auch nach der beiliegenden Zeitungsnotiz [9] vorzuliegen scheint, ohne gegenseitiges Einverständnis der beteiligten Staaten ganz unzulässig. Die Regierung beauftragt mich, bei den zuständigen Stellen zu veranlassen, dass Änderungen des bis Ende August bestandenen Verhältnisses nicht ohne Einvernehmen zwischen den beiderseitigen Regierungen durchgeführt werden. [10]

Der Zollvertrag soll zwar nach dem Wunsche des Fürstentumes nicht weitergeführt werden, doch ist er noch nicht aufgehoben, sondern hat die fürstliche Regierung ihre Bereitschaft erklärt, ihn bis zu dem Zeitpunkte, wo es Deutschösterreich möglich sein wird, seine Zollgrenze zu verlegen, loyal einzuhalten. Tatsächlich werden die Zölle für die Auslandsimporte in das Fürstentum weitergezahlt und auch die Vorschriften der Devisenzentrale eingehalten. Dies lässt es als selbstverständlich erscheinen, dass auf Grund der Reziprozität auch Deutschösterreich den Vertrag vorläufig aufrecht erhält. Dass die Grenze bei Balzers teilweise offen ist, ist wohl nicht die Schuld der fürstlichen Regierung, sondern der, mit Rücksicht auf die bevorstehende Auflösung des Vertrages gewiss vollkommen gerechtfertigten Zurückhaltung der Grenzwache, welche sich auf die Überwachung der offiziellen Strassen und Brückeneingänge beschränkt. Es kann aber deswegen nicht behauptet werden, dass der Zolldienst in diesem Teile der Grenze aufgehört hat. Die fürstliche Regierung ist gewiss bereit, den bezüglichen, seitens Deutschösterreichs ausgesprochenen Wünschen nach Möglichkeit nachzukommen. Sie muss jedoch gegen Massnahmen, welche ohne Einvernehmen zwischen den beiden Staaten von untergeordneten Stellen willkürlich verfügt werden und die mit den getroffenen Vereinbarungen in Widerspruch stehen, Verwahrung erheben, wenn durch dieselben neben der noch bestehenden d.ö. Zollgrenze am Rhein eine zweite gegen Vorarlberg entsteht und eine Doppelverzollung der Waren einträte.

Ich beehre mich zu ersuchen, die erforderliche Remedur zu veranlassen und die Rückzahlung der bereits [11] geleisteten irrigen [12] Verzollungen anzuordnen. Wenn die fürstliche Regierung auch die möglichst rasche Verlegung der Grenzwache an die Vorarlberger Grenze wünscht, so muss doch bis zur Durchführung dieser Massnahme der Zollvertrag in seinem ganzen Umfang aufrecht bleiben; unterdessen würde es sich empfehlen, über die Massnahmen zur Aufrechterhaltung des kleinen Grenzverkehres bezw. über die Anbahnung eines neuen Handelsvertrages in Verhandlungen zu treten, in welcher Hinsicht ich geneigten Vorschlägen entgegensehe. Der Landtag des Fürstentums hat bereits zwei Mitglieder namhaft gemacht, [13] welche für diesbezügliche mündliche Verhandlungen nach Wien kommen würden. [14]

 

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[1] LI LA RE 1919/4527 ad 0004/4332. Aktenzeichen der Gesandtschaft: 219/5. Weiteres Exemplar in LI LA V 003/227 (Aktenzeichen: 219/5). Die Note wurde gleichentags auch der liechtensteinischen Regierung zugesandt, bei welcher sie am 15.9.1919 einlangte (LI LA RE 1919/5427 ad 0004/4332).
[2] Der liechtensteinische Landtag hatte am 2.8.1919 beschlossen, den Zollvertrag mit Österreich von 1876, LGBl. 1876 Nr. 3, zu kündigen. Gleichzeitig wurde die liechtensteinische Regierung vom Landtag ersucht, mit Deutschösterreich Verhandlungen wegen eines provisorischen Abkommens über den gegenseitigen Verkehr und Warenaustausch aufzunehmen (LI LA LTA 1919/S04). Der Zollvertrag wurde dann mit Schreiben des liechtensteinischen Gesandten Prinz Eduard an Theodor Ippen, Leiter des deutschösterreichischen Staatsamtes für Äusseres, vom 12.8.1919 gekündigt (LI LA RE 1919/3979 ad 0004/3761 (Aktenzeichen: 219/2)).
[3] Vgl. den Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye vom 10.9.1919, öst. Staatsgesetzblatt 1920 Nr. 303.
[4] Vertreter Österreichs und Liechtensteins hatten am 18.8.1919 das weitere Vorgehen nach der Auflösung des Zollvertrages durch das Fürstentum besprochen. (LI LA V 003/0227).
[5] Vgl. LI LA RE 1919/4268 ad 0004.
[6] Vgl. LI LA RE 1919/4279 ad 0004.
[7] Vgl. das Schreiben der Triesner Weberei Jenny, Spoerry & Cie an die liechtensteinische Regierung vom 4.9.1919: Demnach wurde Liechtenstein seit dem 1.9.1919 als Zollausland betrachtet - die österreichischen Zollbehörden verlangten für die Einfuhr der Gewebe der genannten Fabrik eine Einfuhrbewilligung sowie die Bezahlung des Zolles (LI LA RE 1919/4332 ad 0004).
[8] Vgl. das Schreiben an die Finanz-Bezirks-Direktion Feldkirch vom 5.9.1919, in dem Landesverweser Prinz Karl um „eheste Klarstellung des Sachverhaltes" ersuchte (LI LA RE 1919/4332 ad 0004).
[9] Das „Vorarlberger Volksblatt" berichtete, dass nach einer Verfügung des Staatsamtes für Finanzen Liechtenstein seit 1.9.1919 als Zollausland zu gelten habe und dass bis auf weiteres die derzeit geltenden Bestimmungen betreffend den Warenverkehr über die Grenzen Deutschösterreichs anzuwenden seien. Demgemäss sei grundsätzlich für die Wareneinfuhr aus Liechtenstein ohne Rücksicht auf Gattung und Menge, für die Warenausfuhr nach Liechtenstein, sofern es sich um Verbotswaren handle, eine besondere Bewilligung erforderlich (Nr. 202, 4.9.1919, S. 2-3 („Feldkirch")).
[10] Vgl. das Schreiben von Landesverweser Prinz Karl an die fürstliche Gesandtschaft in Wien vom 5.9.1919, eingelangt ebd. am 9.9.1919 (LI LA V 003/0227 (Aktenzeichen der Regierung: 4332. Aktenzeichen der Gesandtschaft: 219/5)).
[11] „etwa" durchgestrichen und handschriftlich durch „bereits" ersetzt.
[12] „Doppel" durchgestrichen und handschriftlich durch „irrigen" ersetzt.
[13] Als Beirat für die Verhandlungen mit Deutschösterreich und der Schweiz über den Warenverkehr wurden in der Landtagssitzung vom 28.8.1919 die Abgeordneten Friedrich Walser, Josef Marxer und Johann Wanger gewählt (Schreiben des Landtagspräsidiums an die Regierung vom 29.8.1919 (LI LA RE 1919/4325 ad 0004)).
[14] Am 11.9.1919 teilte der Gesandte Prinz Eduard dem deutschösterreichischen Staatsamt für Äusseres im Nachhang zum Schreiben vom 10.9. mit, dass seitens Deutschösterreichs die Räumung der gemeinsamen Zollgrenze gegen die Schweiz ohne Einvernahme mit der fürstlichen Regierung und ohne ordentliche Übergabe der Gebäude stattfinde. Prinz Eduard brachte dem Staatsamt gegenüber sein Befremden über diese Art des Vorgehens zum Ausdruck und verwahrte sich in aller Form dagegen. Der Gesandte gab sich überzeigt, dass das Vorgehen der lokalen österreichischen Behörden in keiner Weise den Intentionen der deutschösterreichischen Regierung entspreche und ersuchte das Staatsamt für Äusseres um „diesbezügliche umgehende Remedur" (LI LA RE 1919/4528 ad 0004; LI LA V 003/228 (Aktenzeichen der Gesandtschaft: 288/1)). - Die Finanz-Bezirks-Direktion Feldkirch teilte der liechtensteinischen Regierung mit Schreiben vom 10.9.1919 mit, dass die Ein- und Ausfuhr der Waren zwischen Liechtenstein und Deutschösterreich bis zu dem noch festzustellenden Zeitpunkt der tatsächlichen Beendigung des Zoll- und Steuervereins ohne Bewilligung und ohne Entrichtung eines Zolles gestattet sei. Die Ausfuhr sämtlicher Waren aus Vorarlberg nach Liechtenstein hingegen sei an die Bewilligung der zuständigen Bezirkshauptmannschaft gebunden, bis die neue Zollgrenze errichtet sei (LI LA RE 1919/4467 ad 0004/4332 (Aktenzeichen: Zl. 21.454); vgl. das Schreiben von Landesverweser Prinz Karl an die Inhaber der Fabrik Jenny, Spoerry & Cie vom 12.9.1919 (LI LA RE 1919/4476 ad 0004 (Aktenzeichen: 4467 [sic]). Gemäss Mitteilung des Landverwesers an die Gesandtschaft Wien vom 12.9.1919 fand am 11.9. in Feldkirch eine längere Besprechung mit der Finanz-Bezirks-Direktion statt, um die Grundlagen für ein Übereinkommen zu schaffen, welches den Verkehr zwischen Vorarlberg und Liechtenstein für die Zeit nach der Verlegung des Zollgrenze zu regeln hätte (LI LA RE 1919/4476 ad 0004; LI LA RE 003/228).