Artikel im "Liechtensteiner Volksblatt", gez. Alfons Feger [1]
31.12.1915
Bei den Tirolern an der Front
(Aus den Neuen Zürcher Nachrichten) [2] von Alfons Feger
Kaum tausend Meter uns gegenüber liegen die feindlichen Stellungen, ich sehe mit freiem Auge die italienischen Wachtposten. "Sehen Sie, Hochwürden", mein Begleiter, der Hauptmann, lenkt meinen Blick nach grossen Flächen blossgelegter Erde, "dort haben wir beim letzten Angriff unsere Steinlawinen losgelassen, als die Welschen den Berg hinaufstürmten" – er hielt sich die Hände vor die Augen – "sie haben grässliche Lücken in ihre Reihen geschlagen." "Hinter die Deckung!" Der Hauptmann riss mich hinter den Erdwall, auf dem wir standen, drüben bei den feindlichen Batterien hat es für einen Augenblick aufgeblitzt und schon kommt es mit unheimlichem Sausen und Pfeifen durch die Luft herangeflogen und schlägt mit ohrenbetäubendem Krachen in nächster Nähe auf. Granatensplitter, Steine, aufgewühlte Erde fliegen in wirrem Durcheinander in der Luft; mein Hauptmann salutiert spöttisch zum krepierenden Geschoss hinüber, mir war unheimlich zu Mute geworden, als ich das erstemal den Tod auf mich zukommen hörte. Später gewöhnt man sich an so etwas; in den vierzehn Tagen, die ich in unmittelbarster Nähe der Front zubrachte, rauchte ich im Artilleriefeuer gleich den Offizieren seelenruhig meine Zigarette. Die ruhige Haltung der Offiziere und Soldaten gibt in solchen Augenblicken eine merkwürdige Sicherheit.
Am Fusse des Berges, der gegen Süden in einem lichten Abhang ausläuft, lagen die Toten vom letzten Gefechte. Unheimlich grinsten ihre schwarzen Gesichter zu uns herauf. "Wir können sie nicht beerdigen, die Italiener schiessen auf die Sanität", setzt mir der Hauptmann auseinander. "Dort unten fanden wir vor einigen Tagen einen unsrigen Posten mit zerschnittener Kehle auf", erzählte er weiter, "eine bei den Welschen gebräuchliche Angriffsmethode. Bei Tage graben sie sich ein, nachts schleichen sie sich an und achtet eine Wache nicht angestrengt auf das leiseste Geräusch, so sitzt ihr das Messer einer welschen Katze im Genick." Das Messer – die richtige Waffe für diese Leute. Vor einem ehrlichen Stecken laufen sie davon, im Hinterhalte sind sie Meister. Wenn der Chronist des italienisch-österreichischen Krieges die Einzelheiten des Grenzkampfes sammeln wird, so wird er von scheusslichen Verstümmelungen an österreichischen und deutschen Soldaten berichten müssen, die der blosse Anstand zu nennen verbietet.
Ich sehe hinüber nach dem armen, zerstörten Sexten. Vor zwei Jahren hatte ich dort einen unvergesslichen Tag im Pfarrhause verlebt. Jetzt ist alles nur mehr ein Schutthaufen, das hübsche, behäbige Tirolerdorf mit seinen stattlichen, steingebauten Bauernhäusern samt der prachtvollen Barockkirche; dabei war das Dorf ohne strategischen Wert, alles aus purer Bosheit zusammengeschossen.
Inzwischen war die angesetzte Zeit des Feldgottesdienstes herangekommen, unter einer von Kugeln einigermassen geschützten Felsenwand war der Altar aufgeschlagen, ein Brett auf vier Holzpfählen, darauf ein vorgeschriebener Reliquienstein und die Altartücher, in malerischen Gruppen stand und kniete die Mannschaft auf den umliegenden Felsenkuppen; unaufhörlich dröhnten die feindlichen Geschütze und sandten ihre Geschosse über unsere Köpfe hinweg, knack, knack, knack tönte es einigemal während des Gottesdienstes an der Felswand über dem Altare, es waren die anschlagenden Gewehrkugeln. In tiefer Ergriffenheit brachte ich für die Tapferen das heilige Opfer dar, für sie und die Freiheit ihres heissgeliebten Landes, das sich durch Jahrhunderte als ein Bollwerk der katholischen Religion und tiefer Vaterlandsliebe bewährt hat; die Soldaten beteten während der Messe den Rosenkranz, der Hauptmann betete vor; und ein unvergesslicher Anblick wird es mir sein, als sich Mann für Mann mit dem Hauptmann an der Spitze auf den Boden niederknieten, den Leib des Herrn zu empfangen, selbst die Posten wurden für kurze Zeit abgelöst und kommunizierten am Schlusse der Messe; leise fing es an zu schneien und einzelne Flocken fielen auf den weissen Fronleichnam unseres Herrn. Es herrscht ein tiefer religiöser Geist im österreichischen Heere, ich habe mich bei zahlreichen Feldmessen an verschiedenen Frontstellungen von der erbaulichen Andacht überzeugt, mit der die Offiziere vom Erstkommandierenden bis zum jüngsten Leutnant ihre religiösen Verpflichtungen erfüllten; gewiss wird religiöse Verflachung eines grossen Teils des Offizierskorps nicht in Abrede gestellt, der Krieg hat aber das religiöse Bedürfnis mächtig geweckt und stünden nicht so viele Juden im österreichischen Heere, es wäre noch um ein Bedeutendes besser.
Als ich mich von diesen braven Leuten verabschiedete, brachten sie mir in Dankbarkeit, was die Berge boten: Edelweiss, Speik, Edelraute, italienische Munition, einer gab mir ein Paket Briefe, die er einem italienischen Gefallenen abgenommen; ich habe diese Briefe zu Hause durchgesehen, sie stammten von einem Leutnant aus Palermo, in den rührendsten Ausdrücken der Liebe schrieben ihm seine Mutter und Schwestern von den grossen und kleinen Sorgen einer zufriedenen Familie, wie sie tägliche heisse Gebete für seine glückliche Rückkunft zur Madonna emporsenden, besonders die Briefe der Mutter waren tiefergreifend, und mit Tränen in den Augen legte ich sie beiseite; jetzt liegt der arme Junge – seinem Dienstbuch zufolge war er 19 Jahre – oben am Fusse des Monte Quaterns vielleicht noch unbeerdigt, ein glückliches Familienleben ist einer gewissenlosen Politik geopfert – ein Bild für Hunderttausende!
Eine sachliche Berichterstattung wird den italienischen Offizieren das Zeugnis hervorragender Tapferkeit und aufopferndster Pflichterfüllung nicht versagen können, im österreichischen Heere spricht man mit Hochachtung von ihnen; umso mehr fällt das feige Verhalten der gemeinen Soldaten auf, die keine Gelegenheit zur Desertion vorübergehen lassen, nur zu oft muss die italienische Artillerie bei Gefechten ihre eigenen Leute zusammenschiessen, um sie am Überlaufen zu hindern; zahlreiche Gefangene haben mir lachenden Mundes erzählt, sie seien mit der bestimmten Absicht an die Front abgegangen, bei erster Gelegenheit zu desertieren. Es ist auffallend genug, dass ein italienisches Regiment nicht ein zweites Mal zu einem Sturmangriff zu verwenden ist.
Der Hauptmann gab mir mit zwei Leutnants eine Strecke Weges das Geleite, und nach einem herzlichen Abschied stieg ich dem Tale zu. Als ich das nächste Mal zu ihnen herauf kam, habe ich nicht mehr alle vollzählig angetroffen…
Die unfreundliche Herbststimmung war inzwischen einem klaren Nachmittag gewichen, an bestimmter Stelle wartete die Ordonnanz mit den Pferden und es gab einen fröhlichen Heimritt. Unterwegs stiess ich auf etwa 1000 gefangene Russen; sie führten einen Strassenbau aus. "Warschau kaput", schrie ich zu ihnen hinauf, da lachten sie mitleidig zu mir hinunter und einer mit gewaltigem Bart schrie zurück: "Warschau nix kaput!" Von all diesen tausend Gefangenen sprach ein einziger Deutsch. Die Russen sind im allgemeinen gutmütige Leute, vielfach werden sie den Bauern zu landwirtschaftlichen Arbeiten beigegeben, besitzen nur die eine Untugend, dass sie unglaublich viel verzehren, was schliesslich nicht zu verwundern, wenn man die ausgezeichneten Tiroler-Knödel kennt. Die Soldaten aus dem Kaukasus und aus Sibirien fallen durch ihren prächtigen Körperwuchs auf; werden gefangene Russen eingeliefert, so werden sie zuerst in eigenen Anstalten entlaust, entwanzt und von ähnlichen Anhängseln befreit. Revolten unter ihnen sind selten und mit einiger Energie sofort zu unterdrücken. Als sich eine Partie zu arbeiten weigerte und tätlich zu werden drohte, liess sie der wachhabende Offizier in Reih und Glied aufstellen und ging mit vorgehaltenem Revolver auf den Ersten zu: "Wollen Sie arbeiten?" "Nein!" Da schoss er. Zum Zweiten: "Wollen Sie arbeiten?" "Jawohl!" schrie dieser aus Leibeskräften und rannte mit den Übrigen schleunigst der Arbeitsstelle zu.
Nicht ohne tragischen Abschluss sollte dieser an Eindrücken so reiche erste Besuch an der Front vorübergehen. Als ich an einem abseits gelegenen Bauernhofe vorüberkam, fiel mir schon aus der Ferne eine Ansammlung von Leuten auf. Näher gekommen, erfuhr ich, dass im Laufe des Nachmittags ein Offiziersbursche aus Unvorsichtigkeit eine Tochter des Hauses erschossen habe. In der dunkelgetäfelten Stube lag die Leiche eines achtzehnjährigen Mädchens, die Kugel war im Hinterkopfe eingedrungen. Media in vita mortis sumus – erschüttert verliess ich das Haus.
Die Nacht liegt über dem stillen Bergdörflein, als ich, müde von den Anstrengungen und Eindrücken des Tages, mein Pferd dem Stabsquartier zulenkte. Der Scheinwerfer suchte das Gelände ab, wie Silhouetten hoben sich die Gruppen der Soldaten von den Lagerfeuern ab, die da und dort brennen, auf der Strasse verklingen die Hufschläge einzelner Reiter. Sterne blinkten am dunkeln Himmel; übergross ragt die Dorfkirche zum nächtlichen Firmament hinauf, durch ihre Fenster flackert matt der Widerschein des ewigen Lichtes. Meine Gedanken gehen zurück zu den Tapfern oben auf den Felsenhöhen, höher hinauf, zu dem einsamen Sterne; er wird einmal das hienieden unruhig flackernde Feuer unseres Herzens in eine reine, selige Flamme überleiten und unser aller Heimweh stillen; jenes Heimweh der Menschenseele nach der Ewigkeit, unter welchem dieses heldenmütige Volk kämpft und leidet.
Ende.