Artikel im "Liechtensteiner Volksblatt", gez. Alfons Feger [1]
24.12.1915
Bei den Tirolern an der Front
(Aus den Neuen Zürcher Nachrichten) [2] von Alfons Feger
Die Ruhe eines sonnigen Sonntagnachmittags lag über dem behäbigen Pustertal, über seinen dunkeln Tannenwäldern, seinen weitausgedehnten Weideflächen, seinen goldigen Getreidefeldern, als ich der Einladung eines hohen Militärs zu einem Besuche ins Stabsquartier Folge leistend, mit einem leichten Jagdwagen in Begleitung einer Ordonnanz an den anheimelnden Tirolerdörflein mit ihren dunkelgebräunten Holzhäusern vorbeikutschierte. Der Nachmittagsgottesdienst ist zu Ende. Da und dort siehst du wohl eine kleine Schar frommer Beter einem Kreuzwege zu wallfahren, Kinder, Greise, Frauen. Nach den Männern siehst du dich vergeblich um, die halten in den Bergen oben Wacht gegen den "Welschen". Die vielen Bilder des Gekreuzigten und seiner schmerzhaften Mutter, die am Wege ausgestellt sind, erinnern dich an das heilige Land Tirol, heilig nicht nur wegen des tiefen religiösen Sinnes der Bevölkerung, heilig vor allem, weil es wie kein zweites Kronland Österreichs so schwere, blutige Opfer seit je gebracht, um seine Freiheit und Zugehörigkeit zur Habsburger Monarchie zu bewahren. Sonst merkst du wenig vom Sonntag. Russische Kriegsgefangene hüten Schafherden auf den weiten Weideplätzen.
Auf der Landstrasse ziehen gleich grauen Riesenschlangen Landesschützen einher, fröhlich flattert die Spielhahnfeder von der Mütze. Nicht wenige siehst du, die neben dem Edelweiss, der Auszeichnung der Alpentruppen, geweihte Medaillen tragen. "Grüss Gott, Hochwürden", grüssen sie zutraulich, und mancher vergisst dabei das Salutieren und nimmt, noch im Banne früherer Gewohnheit, seine Mütze herunter. Das Herz lacht einem beim Anblick dieser prächtigen Burschen. So sind sie alle, die Soldaten der ruhmreichen österreichischen Armee, kaisertreu und vaterlandsliebend bis zum letzten Blutstropfen. Auch die Slawen haben sich ausgezeichnet gehalten und besonders ihre Artillerie hat sich unvergängliche Lorbeeren in Russland und am Jsonzo geholt. Hinter der Infanterie marschiert in langer Reihe eine Kolonne Maschinengewehre. Kleine galizianische Pferdchen tragen die zerlegten Geschütze. Es fiel mir bei einzelnen berittenen Offizieren die ungewöhnliche Grösse ihrer Reitpferde auf, es seien belgische Pferde, von den Deutschen übernommen, erklärte mir ein Feldweibel, "Kriegsgefangene", lächelte er schlau.
Ein nicht alltäglicher Anblick: Hoch zu Ross reitet ein Franziskanerpater auf mich zu, ein junges, sympathisches Gesicht, auf der Brust das Verdienstkreuz "Piis meritis". Die fröhliche Spielhahnfeder, die von seiner Offiziersmütze hinuntergrüsst, und die drei Goldreifen auf den Ärmeln – das Abzeichen der österreichischen Feldkuraten – wollen nicht recht zum ernsten Braun der Kutte passen. Gleich zu Kriegsausbruch sei er mit seinem Regiment nach Serbien abgegangen. Er wusste von entsetzlichen Strapazen und Entbehrungen dort unten zu berichten; dann war er Monate lang in Galizien, nun sei der Rest seines Regimentes, das zum grossen Teil aus Vorarlbergern und Tirolern bestand, gegen die Italiener kommandiert. Aus Vorarlbergern und Tirolern! Blutrote Edelsteine sind diese beiden Länder in der Krone der Habsburger. Wenn du in Tirol und Vorarlberg nachfrägst, du findest ganz selten eine Familie, aus der nicht wenigstens ein nächster Anverwandter im Felde geblieben. Das tiefgläubige Volk zieht noch grosse, kinderreiche Familien heran. Es ist der unbesiegbare Geist von 1809, der auch in der heutigen Generation lebt, unbesiegbar eben, weil er aus überzeugter Glaubenstreue herauswächst.
Ich kam an einem Dorfe vorbei, in dem Tags zuvor einige feindliche Granaten eingeschlagen. Ein Haus hatten sie demoliert und ein zehnjähriges Mädchen schwer getroffen; nach stundelangen grässlichen Schmerzen war es den Verletzungen erlegen. Allmählich kam ich dem Stabsquartier näher und ein friedlicher Herbstabend goss seine flammende Pracht über die Landschaft aus. Vom wuchtigen Felsenmassiv der Dolomiten glüht noch einmal der letzte Widerschein des untergehenden Tagesgestirns, ehe es erlischt. Durch das klare wolkenlose Blau der herbstlichen Luft ziehen die letzten Vögel nach dem Süden. Die im Alpengold funkelnden Kirchen und Kapellen mahnen an das Heimweh der Menschenseele nach der Ewigkeit. Ein leichter Abendwind zieht durch das nährende Gold der Getreidefelder; ahnt es in seinem Rauschen den Würgengel, der durch das Land zieht?
Undurchdringliche Drahtverhaue flankierenden Weg. Eifrig arbeiten Soldaten am Auswerfen von Schützengräben, da und dort werden schwere Geschütze eingegraben, schwerfällig poltern die Lastautomobile mit ihren schweren Frachten von Holz, Steinen und Stacheldraht einher, hinwieder saust ein elegantes Auto mit höheren Offizieren vorbei. Feldgendarmen, in leichtgrauen Uniformen verlangen nach den Papieren. Einmal führte man ein Trüpplein von etwa zwanzig Kriegsgefangenen vorbei, heitere aufgeräumte Burschen. Die weissen Wölklein dort oben sind platzende Schrapnells und bei schärferem Zusehen sieht man deutlich die von den Granaten ausgeworfenen Erdmassen in der Luft herumfliegen. Noch eine letzte Steigung haben die Pferde zu überwinden, und eben als sich die Dämmerung über das kleine Bergdörflein herabsenkte, in dem der Stab sein Quartier aufgeschlagen hat, habe ich das erste Ziel meiner Reise erreicht.
Trotz des unaufhörlichen Kanonendonners, der mir die Nacht den Schlaf fernhielt, gab es einen gemütlichen Abend beim Offizierskorps des Stabes, wo ich herzliche Aufnahme fand. Eine schlichte Bauernstube hatten sie sich als Kasino eingerichtet, an den getünchten Wänden als einziger Schmuck ein altes Kruzifix, darunter die Bilder der Zweibundeskaiser [Franz Joseph I. und Wilhelm II.]. In zuvorkommender Weise erteilte mir der schneidige Oberkommandeur, Prinz Heinrich von Bayern, welcher nach seiner Wiederherstellung von einer schweren Verwundung in Frankreich gegen die Italiener ein Kommando inne hat, die Erlaubnis zum Besuch seines Frontabschnittes.
Noch lag tiefe Nacht über dem Quartiere des Stabes, als meine Ordonnanz mit den Pferden vor dem freundlichen Pfarrhause wartete, wo ich übernachtete; im Galopp geht es zuerst durch einen hohen, schweigenden Bergwald, mein prächtiger Goldfuchs holt wacker aus in der kühlen Morgenluft. Langsam fängt der Weg an zu steigen verblühte Alpenflora zeigt sich in üppiger Fülle, die Beeren der in dieser Höhe zahlreich vorkommenden Eberesche leuchten, gleich Rubinen im Lichte des aufsteigenden Tages. Über dem Bergtal liegt dichter Nebel. Manchmal hält uns ein Posten an und fragt nach Losungswort und Feldruf. Starke Abteilungen von Soldaten ziehen zur Ablösung talwärts. Splitter von Granaten, und nicht krepierte Projektile finden sich am Wege. Da horch – unwillkürlich machte mein Pferd einen Seitensprung, der mich beinahe aus dem Sattel warf – durch das schweigende Bergtal dröhnt der erste Kanonenschuss in die Morgenfrühe hinaus und wirst mit gewaltigem Krachen sein Echo von den Felsenwänden zurück; es ist der Morgengruss der Italiener. Der dichte Nebel macht jede Aussicht unmöglich wie ich am Rückwege sah, hatte das Geschoss etwa 50 Meter vor uns aufgeschlagen. Die Felsenwände, an denen wir vorbeiritten, zeigten deutliche Spuren von Beschiessungen und die rote Erde ist stellenweise von den einschlagenden Granaten tiefaufgewühlt. Gegen zwanzig Schüsse zähle ich, dann schweigt das Feuer. Die Pferde, welche unruhig geworden, lassen wir zurück; der Weg verengt sich zu einem Saumpfad. Unterwegs überholen wir eine Tragtier-Kolonne, von kleinen, schwarzen rumänischen Bauern in ihrer hübschen Nationaltracht geführt. Als ihr Führer mich erblickte, liess er halten, zog ein Gebetbuch aus der Tasche und begann mit lauter Stimme den andern vorzubeten. Auf Saumtieren werden die Lebensnotwendigkeiten heraufgeschafft; bei andern Frontstellungen, wo die Zugänge weniger günstig sind, muss jedes Stück Brot, jede Patrone, jedes Stück Holz zum Feuern und Bauen auf stundenlangem Wege vom Tale über die Felsen heraufgetragen werden. Als Träger werden Flüchtlinge aus Galizien und Südtirol verwendet. Nach einem Ritte von zwei Stunden und ebenso langem Bergsteigen erreichten wir gegen 8 Uhr früh die Höhe, ein schneidender Wind pfeift über den Grat herüber und jagt den Nebel in wirren Gestalten umher. Zeitweilig lässt er ein Stück blauen Himmels durchschauen und gibt den Blick weithin über eine majestätische Bergwelt mit ungezählten Spitzen, Massiven und blendenden Gletschern frei. Zu unsern Füssen liegen friedlich im Scheine der Morgensonne die italienischen Grenzdörfer. Die Brust weitet sich bei diesem grossen Anblick.
(Fortsetzung folgt.)