Maschinenschriftliches Schreiben von Fürst Johann II., gez. ders., an Landesverweser Prinz Karl [1]
18.5.1920, Wien
Lieber Herr Neffe und Landesverweser!
Durch die von Euer Durchlaucht aus Gesundheitsrücksichten erbetene und von Mir gewährte längere Beurlaubung im Zusammenhange mit dem Scheiden des bisherigen Regierungssekretärs [Josef Ospelt] aus dem Landesdienste, hat sich die Notwendigkeit ergeben, für die Stellvertretung Euer Durchlaucht, in einer dem letzteren Umstande Rechnung tragenden, von der Norm des § 15 A.I. [2] abweichenden Art Vorsorge zu treffen.
Erfüllt von der Sorge um das Wohl Meines Landes und geleitet von dem Wunsche, dass es möglichst bald aus den gegenwärtigen schweren Zeiten herausgeführt werde, sowie von der Erkenntnis der Notwendigkeit durchdrungen, dass nach Schaffung der Vorraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenarbeiten zur Heilung der schweren wirtschaftlichen Wunden, die der Krieg auch dem Fürstentume geschlagen hat, eine Reihe grosser und wichtiger Angelegenheiten im Lande einer raschen Lösung zugeführt werden muss, berufe Ich zur Mitwirkung an diesen Arbeiten in Betätigung des Mir nach § 27 der Verfassung [3] zustehenden Rechtes über Antrag Euer Durchlaucht den Hofrat des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes Dr. Josef Peer, der mir sowohl wegen seiner langjährigen Tätigkeit auf verschiedenen Gebieten des öffentlichen Lebens, wie auch im Hinblicke auf seine längst bestehenden persönlichen Beziehungen zum Lande, als eine hiezu geeignete Persönlichkeit bezeichnet wurde und betraue ihn auf die Dauer der Beurlaubung Eurer Durchlaucht mit Hochdero Stellvertretung in den Funktionen Meines Landesverwesers.
Ich hoffe von der einmütigen Zusammenarbeit Dr. Peers mit Meinem Landtage, dass Mir in Bälde Vorlagen in Bezug auf eine Revision der Verfassung [4] unterbreitet werden und stehe nicht an, bei diesem Anlasse zu erklären, dass Ich Anträge im Sinne der von Euer Durchlaucht im Dezember 1918 gemachten Eröffnungen über die künftige Besetzung des Landesverweserspostens, wie auch eventuelle auf eine Abänderung der bisherigen Art der Ausübung der Regierungsgewalt abzielende Beschlüsse Meines Landtages wohlwollend entgegennehmen werde, soferne dieselben eine objektive und gesetzmässige Führung der Verwaltung gewährleisten. [5]
Ich erhoffe von der Tätigkeit Dr. Peers im Einvernehmen mit dem Landtage die endliche Regelung für das Land so wichtigen wirtschaftlichen Angelegenheiten und bin gerne geneigt dem Lande auch ferner nach Tunlichkeit in dieser schweren Übergangszeit zur Seite zu stehen, sofern die Mir in dieser Richtung zu unterbreitenden Vorschläge nicht nur augenblicklichen Bedürfnissen abzuhelfen, sondern den Haushalt des Landes dauernd zu sichern geeignet sein werden.
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[1] LI LA SF 01/1920/214 (III). Prägestempel mit dem fürstlich-liechtensteinischen Wappen. Das Ernennungsschreiben bzw. die Ernennung Josef Peers wurde nicht in den Landeszeitungen veröffentlicht und scheint vorerst nicht wirksam geworden zu sein. Im Zusammenhang mit der Berufung Peers und der Beilegung der damit im Zusammenhang stehenden Differenzen wurde Prinz Johannes von Fürst Johann II. in „bestimmter Mission" nach Liechtenstein entsandt und ermächtigt, die „zweckdienlich erscheinenden Verfügungen" zu veranlassen (Schreiben von Fürst Johann II. an Prinz Johannes vom 18.5.1920 bzw. Schreiben der Kabinettskanzlei (Josef Martin) an die Regierung vom selben Datum (LI LA SF 01/1920/088)). Am 21.5.1920 fand dann in Vaduz eine Besprechung mit den massgeblichen Persönlichkeiten des Landes statt (vgl. die diesbezügliche Niederschrift unter LI LA SF 01/1920/090). Mit Schreiben der Kabinettskanzlei an Landesverweser Prinz Karl vom 10.6.1920 wurde dessen Beurlaubung aus Gesundheitsrücksichten bewilligt. Die Regierungsgeschäfte hatte dagegen bis auf weiteres - nicht Peer - sondern der „vorläufig nicht von diesem seinen Posten zu enthebende Regierungssekretär Josef Ospelt zu besorgen." (LI LA SF 01/1920/093).
[2] Dieser Bestimmung zufolge hatte in Abwesenheit oder Erkrankung des Landesverwesers der Sekretär die Leitung der Regierungsgeschäfte zu besorgen (Fürstliche Verordnung vom 14.5.1915 betreffend die Abänderung des § 15 und die Ergänzung des § 18 der Amtsinstruktion für die Landesbehörden des Fürstentums Liechtenstein, LGBl. 1915 Nr. 7).
[3] Nach § 27 der Verfassung vom 26.9.1862 wurde die in der Hand des Fürsten liegende Regierungsgewalt nach Massgabe der Verfassungsbestimmungen durch verantwortliche Staatsdiener ausgeübt, welche der Landesfürst ernannte.
[4] Vgl. den am 12.1.1921 von Fürst Johann II. „vorsanktionierten" Verfassungsentwurf von Josef Peer (LI LA RE 1921/0963).
[5] Vgl. in diesem Zusammenhang etwa das 9-Punkte-Programm der Landtagsabgeordneten zur Verfassungsrevision vom 10.12.1918 (LI LA SF 01/1918/044).