Landesverweser Prinz Karl teilt der Gesandtschaft in Wien mit, dass die Regierung dem Landtag vorschlagen will, in Wien im Wege der Gesandtschaft über eine Auflösung des Zollvertrags mit Österreich zu sondieren


Maschinenschriftliches Schreiben von Landesverweser Prinz Karl an die Gesandtschaft in Wien [1]

25.7.1919

Am 23. Juli 1919 ist der Feldkircher Finanzbezirksdirektor, Oberfinanzrat [Josef] Bitschnau bei mir erschienen, um die Hilfe der fürstlichen Regierung in Anspruch zu nehmen, damit für 30 Mann Finanzwache in der Gemeinde Balzers Unterkunft und Verpflegung beschafft werde. Die Vorgeschichte des Besuches ist diese:

Wie die fürstliche Regierung schon früher mitteilte, blüht gegenwärtig sozusagen im ganzen Lande ein gewaltiger Einfuhrschmuggel aus der Schweiz und der Ausfuhrschmuggel dorthin. Hieran hat auch der von der fürstlichen Regierung erlassene Aufruf an die Bevölkerung wenig geändert. [2] Hiebei muss ich neuerlich auf mein Schreiben vom 14. d.M. Z. 3366/Reg. hinweisen. [3] Ganz unverständlich erscheint es hierzulande, dass die deutschösterreichische Regierung den am meisten geschmuggelten Tabak und Zigarren nicht selbst einführt und dadurch dem Staate grosse Einnahmen verschaffen würde. Dem Schmuggel wäre durch eine solche Massnahme viel eher beizukommen, als durch Verstärkung der Finanzwache, die der fürstlichen Regierung nur Gehässigkeiten einträgt. Unter den Schikanen der Schmuggler hat namentlich die Finanzwachmannschaft in Balzers schwer zu leiden. Der mit weitgehenden Vollmachten ausgestattete Finanzwachoberkommissär [Josef Edelbert] Fritz in Vaduz hat es deshalb für angezeigt befunden, den Dienst in Balzers einzustellen und die dortige Mannschaft zu beurlauben. An eine Wiederaufnahme des Dienstes in Balzers will Fritz erst schreiten, wenn soviel Leute nach Balzers gestellt werden, dass dem Schmuggel und namentlich den Widersetzlichkeiten, wie solche vorgekommen sind, mit Erfolg begegnet werden kann. Oberfinanzrat Bitschnau ist nun bereit, etwa 30 Mann Verstärkung nach Balzers zu stellen, hat aber an mich das Ersuchen gestellt, dass die fürstliche Regierung gemäss Artikel 14 des Zollvertrages vom Jahre 1876 [4] für die Unterkunft und Verpflegung Hilfe leistet. Sollte wider Erwarten liechtensteinischerseits nicht das nötige Entgegenkommen bestätigt werden, so bestehe österreichischerseits die Absicht, die Finanzwache ganz aus Liechtenstein abzuziehen.

Die fürstliche Regierung hat hierauf auf 24. Juli 1919 eine Regierungssitzung einberufen, zu der bei der ausserordentlichen Wichtigkeit des Gegenstandes auch die beiden Regierungsratsstellvertreter Friedrich Walser in Schaan und Emil Batliner in Mauren geladen wurden. [5] Bei dieser Sitzung waren sich alle Mitglieder der Regierung der grossen Tragweite eines Abzuges Österreichs vom Lande bewusst und erklärten, dass man den österreichischen Finanzbehörden hilfreiche Hand bieten müsse, um zu ermöglichen, dass der Dienst im Balzers mit der verstärkten Mannschaft wieder aufgenommen werden könne. Nur Dr. [Wilhelm] Beck erklärte, dass er dem Beschlusse nicht zustimmen könne. Er halte eine sofortige Lösung des Zollvertrages für das Land für ratsamer, als die Fortdauer desselben, da sonst das Land noch weiter ins Verderben renne. Hiebei wies er auf den finanziellen Teil des österreichischen Friedensvertrages hin. Weiters wurde geltend gemacht, dass wir von Österreich die Zollgelder nicht ausbezahlt bekommen, dieses dagegen von den Landesbewohnern für alle eingeführten Sachen einen 350%igen Zuschlag erhebe. Dass dieser Zuschlag angeblich keine Zollerhöhung, sondern bloss die Differenz zwischen Papier-Geld und Gold bedeutet, ist für die jetzige Bevölkerung ein matter Trost. Dr. Beck sagte, der Zollvertrag sei überhaupt nicht mehr in Geltung, da dessen im Winter erfolgte provisorische Verlängerung nicht, wie es gesetzlich vorgeschrieben sei, verlautbart wurde. [6] (Dr. Beck hat aber selbst durch sein Votum zur Erhöhung der Verzehrungssteuern den Bestand des Vertrages anerkannt). [7] Bei den andern Ratsmitgliedern machte sich aber die Ansicht geltend, dass Liechtenstein sich bei einer so raschen Lösung des Vertrages in eine Sackgasse verrenne, die für das Wirtschaftsleben verhängnisvoll werde, namentlich das Unterland würde durch einen solchen Umstand schwer getroffen. Die Vertragslösung hätte zur Folge, dass wir von Österreich gänzlich abgeschlossen würden, gegenwärtig seien wir aber gerade bezüglich der Einfuhr von Baumaterialien und noch vieler anderer Artikel ausserordentlich von Österreich abhängig. Die Bautätigkeit käme ganz ins Stocken. Von der Schweiz seien in letzter Zeit wohl verschiedene Artikel für den kleinen Grenzverkehr freigegeben worden, aber bei dem schlechten Kurse unseres Geldes könne es sich nur ein verschwindend kleiner Teil gestatten, Artikel des täglichen Lebens von dort einzukaufen. Lassen wir Deutschösterreich heute seine Finanzwache von Liechtenstein abziehen, so sehe das einem Hinauswerfen aus dem Zollvertrag gleich, was uns bei den künftigen Verhandlungen ausserordentlich hinderlich sein könnte. Die Mehrzahl der Räte waren der Meinung, dass wir den Zollvertrag mit Österreich nicht überstürzt und nur auf gesetzlichem Wege lösen sollen.

Die Loslösung bedinge aber auch die sofortige Lösung der Valutafragen. Es soll daher auch dem Landtage in seiner demnächstigen Sitzung vorgeschlagen werden, im Wege der Gesandtschaft in Wien in dem Sinne vorstellig zu werden, dass der Zollvertrag aufgelöst werde, dass dagegen mit Deutschösterreich Vereinbarungen wegen gegenseitiger Ein- und Ausfuhr getroffen werden. Bei der Schweizer Bundesregierung in Bern soll sondiert werden, ob sie auch mit Beiseitelassung der Frage des Vorarlberger Anschlusses sofort zu Verhandlungen bereit sei. Gegen die Verstärkung der Finanzwache hatte des Kollegium mit Ausnahme Dr. Becks nichts einzuwenden. Als Unterkunftsort für die Finanzwache ist ein Gebäude des Töchterninstitutes Gutenberg, das derzeit keine Zöglinge aufnimmt, [8] in Aussicht genommen. Die Beschlüsse wurden mit allen gegen die Stimme Dr. Becks gefasst.

Die fürstliche Regierung beehrt sich der fürstlichen Gesandtschaft diese Darstellung zur vorläufigen Kenntnis zu bringen, und wird das Ergebnis der landtäglichen Verhandlungen sofort auf dem kürzesten Wege der Gesandtschaft übermitteln. [9]

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[1] LI LA V 003/0346. Aktenzeichen der Regierung: 3586. Das Schreiben langte am 2.8.1919 unter dem Aktenzeichen 104/5 bei der Gesandtschaft ein. Ein weiteres Exemplar unter LI LA RE 1919/3586 ad 4.
[2] LI LA RE 1919/0004, Aufruf der Regierung "An die Bevölkerung Liechtensteins", 14.7.1919.
[3] LI LA V 003/0346, Regierung an Gesandtschaft Wien, 14.7.1919.
[4] "Vertrag zwischen Seiner Majestät dem Kaiser von Österreich und apostolischen Könige von Ungarn und Seiner Durchlaucht dem souverainen Fürsten von Liechtenstein über die Fortsetzung des durch den Vertrag vom 5. Juni 1852 gegründeten Österreichisch-Liechtenstein'schen Zoll- und Steuervereines" vom 2.12.1876 (LGBl. 1876 Nr. 3).
[5] Vgl. LI LA AS 33/02, Protokoll der Regierungssitzung vom 24.7.1919, Traktandum 1; LI LA RE 1919/3587 ad 4, Auszug aus dem Protokoll der Regierungssitzung vom 24.7.1919.
[6] Liechtenstein hatte bei einer Besprechung in Feldkirch am 6.12.1918 mit Vertretern des Landes Vorarlberg das Weiterbestehen der Staatsverträge zwischen Österreich-Ungarn und Liechtenstein betreffend Zölle, Monopole, Verzehrungssteuern "provisorisch" anerkannt (LI LA RE 1918/5226 ad 2/5068).
[7] Liechtenstein übernahm im Frühling 1919 die Neueinführung bzw. Erhöhung einer Reihe von Verzehrungssteuern. Die Regierung fasste den entsprechenden Beschluss in der Sitzung vom 5.4.1919 offenbar einstimmig, d.h. mit der Stimme von Beck (LI LA AS 33/02, Protokoll der Regierungssitzung vom 5.4.1919, Trakt. 1). Vgl. auch LI RE 1919/2980 ad 4, Prinz Eduard an Regierung, 13.6.1919.
[8] Im Haus Gutenberg in Balzers führten die Schwestern der Christlichen Liebe 1873–1920 eine höhere Töchterschule.
[9] Der Landtag stimmte der Auflösung des Zollvertrags am 2.8.1919 einstimmig zu (LI LA LTA 1919/S04). Die Regierung informierte die Gesandtschaft in Wien per Telegramm (LI LA RE 1919/ad 4/3761; LI LA V 003/0227) sowie mit Schreiben vom 4.8.1919 (LI LA RE 1919/4/3761) über den Beschluss.