Maschinenschriftliches Memorandum von Josef Peer, gez. ders. [1]
22.9.1921, Feldkirch
Promemoria zur Frage der Sanktionierung der Verfassung
Die gegenwärtige Verfassung [2] entbehrt einer ausdrücklichen Bestimmung über die Sanktionierung der vom Landtage beschlossenen Gesetze durch den Landesfürsten. Der Grund dafür ist wohl in der Anordnung des § 2 zu suchen, derzufolge der Landesfürst alle Rechte der Staatsgewalt, die er allerdings unter den in der Verfassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen ausübt, in sich vereiniget. Zu diesen Bestimmungen der Verfassungsurkunde gehört insbesondere jene des § 24, nach welcher ohne Mitwirkung und Zustimmung des Landtages kein Gesetz gegeben werden darf. Die Notwendigkeit der Unterzeichnung eines jeden Gesetzes durch den Landesfürsten ergibt sich einerseits aus der bereits erwähnten Eigenschaft des Fürsten als Trägers der Staatsgewalt und andererseits aus der Anordnung des § 29, wonach alle Gesetze zu ihrer Giltigkeit der "Gegenzeichnung" der verantwortlichen Regierung bedürfen. In § 3 der Amtsinstruktion [3] gehört diese "Gegenzeichnung" zum Wirkungskreise des Landesverwesers und aus der Fassung dieses § 3 ist zu entnehmen, dass der Relativsatz in § 29 "welche vom Fürsten oder einer Regentschaft ausgehen" sich auch auf die Gesetze bezieht.
Aus all dem ist die Notwendigkeit der Unterzeichnung eines jeden Gesetzes durch den Landesfürsten zu erschliessen.
Eine Stellvertretung für den Landesfürsten ist in der gegenwärtigen Verfassung nur in den §§ 103 & 105 (Eröffnung und Schliessung des Landtages) vorgesehen; hieraus und aus der Bestimmung des ersten Absatzes des § 2 wäre zu folgern, dass der Landesfürst alle anderen, ihm nach der Verfassung zustehenden Rechte persönlich auszuüben hat. Es wäre daher nach den Bestimmungen der gegenwärtigen Verfassung, die erst mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung ihre Giltigkeit verliert, die Unterzeichnung eines Gesetzes durch einen Bevollmächtigten des Fürsten in dessen Stellvertretung nicht zulässig, weil in der gegenwärtigen Verfassung eben nicht vorgesehen.
Man könnte sich allerdings auf den Standpunkt stellen, dass Alles, was nicht verboten und nicht zweckwidrig ist, auch erlaubt sei und damit die Zulässigkeit der Unterzeichnung eines Gesetzes durch einen hiezu vom Fürsten ausdrücklich Bevollmächtigten begründen, zumal ja gerade die Erteilung einer solchen Bevollmächtigung die Gutheissung des betreffenden Gesetzes durch den Fürsten in sich schliesst.
Nachdem aber dieser Standpunkt meines Wissens in der Liechtensteinischen Gesetzgebung noch nie betätiget worden ist, hätte ich doch ernstlich Bedenken dagegen, ihn gerade beim allerwichtigsten Akte der ganzen Gesetzgebung, bei Erlassung der neuen Verfassung, erstmals zu betätigen!
Nun liesse sich aber meines Erachtens unschwer ein vollkommen zulässiger Ausweg finden.
Wie ich aus dem Telegramme der Kabinettskanzlei vom 19. September 1921 [4] erschliesse, billigt Seine Durchlaucht der regierende Herr [Johann II.] die Anregung, dass die neue Verfassungsurkunde am 5. Oktober als an Höchstseinem Geburtstage in Vaduz durch Seine Durchlaucht den Herrn Prinzen Karl [von Liechtenstein] in Höchstseiner Vertretung unterzeichnet werde. [5]
Diese Unterzeichnung der Verfassungsurkunde könnte nun in vollkommen verfassungsmässiger Weise durch Se. Durchlaucht den Herrn Prinzen Karl erfolgen, wenn Seine Durchlaucht der regierende Herr zwar die Sanktion der neuen Verfassung in einem an den Regierungschef [Josef Ospelt] zu erlassenden Handschreiben ausspricht, zugleich aber auf Grund der damit in Kraft tretenden neuen Verfassung in Gemässheit des Art. 13 Abs. 2 derselben [6] den Herrn Prinzen Karl als Höchstseinen Stellvertreter mit der Ausübung des Ihm zustehenden Hoheitsrechtes der feierlichen Unterzeichnung der Verfassungsurkunde betraut.
Auf diese Art ist es möglich, der Verfassungsurkunde das Datum des Höchsten Geburtstages zu geben und ihre feierliche Unterzeichnung in Vaduz erfolgen zu lassen. Will man diesen, in der Verfassungsgeschichte des Landes gewiss denkwürdigen Akt besonders feierlich gestalten, so kann er vor dem zu diesem Zwecke am 5. Oktober zu einer Festsitzung einzuberufenden Landtage vor sich gehen. Nach Eröffnung durch den Präsidenten [Friedrich Walser] verliest der Regierungschef das die Sanktion aussprechende und den Herrn Prinzen Karl zur Unterfertigung der Verfassungsurkunde ermächtigende Höchste Handschreiben, worauf die Unterzeichnung durch den Herrn Prinzen und die Gegenzeichnung durch den Regierungschef erfolgt. Selbstredend sind hiebei dem Prinzen jene Ehren zu erweisen, die ihm in diesem Falle als dem Stellvertreter des Landesfürsten gebühren. [7]
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[1] LI LA RE 1921/4348 ad 963. Das Memorandum wurde von Regierungschef Josef Ospelt mit Schreiben vom 26.9.1921 Kabinettsdirektor Josef Martin zur Kenntnis gebracht (LI LA RE 1921/4243 ad 963), der es am 3.10.1921 retournierte.
[2] Konstitutionelle Verfassung vom 26.9.1862 (LI LA SgRV).
[3] Fürstliche Verordnung vom 30.5.1871 über die Trennung der Justizpflege von der Administration (mit Amtsinstruktion für die Landesbehörden des Fürstentums Liechtenstein), LGBl. 1871 Nr. 1.
[4] LI LA RE 1921/4175 ad 963.
[5] Diesen Vorschlag hatte Regierungschef Ospelt gemacht (LI LA RE 1921/4017 ad 963, Ospelt an Martin, 10.9.1921).
[6] Art. 13 Abs. 2 der neuen Verfassung (LGBl. 1921 Nr. 15) lautet: "Der Landesfürst wird bei längerer Abwesenheit vom Lande jährlich auf eine gewisse Zeit und ausserdem fallweise einen Prinzen seines Hauses ins Land entsenden und ihn als seinen Stellvertreter mit der Ausübung ihm zustehender Hoheitsrechte betrauen."
[7] Die Sanktion und die Unterzeichnung der neuen Verfassung erfolgte am 5.10.1921 in der von Peer vorgeschlagenen Form. Von der Einberufung des Landtags wurde allerdings aus Sparsamkeitsgründen abgesehen. Um trotzdem "eine gewisse Feierlichkeit bei dem hochwichtigen Anlasse zu haben" wurden Landtagspräsident Friedrich Walser, Landtagsvizepräsident Wilhelm Beck, der Regierungschef sowie die beiden Regierungsräte Franz Josef Marxer und Oskar Bargetze zur Unterzeichnung der neuen Verfassung eingeladen (LI LA RE 1921/4243 ad 963, Ospelt an Martin, 26.9.1921; L.Vo., Nr. 80, 8.10.1921, S. 1 ("Sanktion der neuen Verfassung")). Die beiden Handschreiben des Fürsten wurden mit der neuen Verfassung zusammen in LGBl. 1921 Nr. 15 veröffentlicht.