Artikel im "Liechtensteiner Volksblatt" vom 8.9.1920, gez. –c– [1]
September 1920, Vaduz
Endlich gibt die "O.N." im Leitartikel ihrer Nummer 71 [2] zu, dass in Liechtenstein auch "republikanische" Bestrebungen vorhanden sind und meldet gleichzeitig der staunenden Welt, dass sich manche (?) Kreise mit den Gedanken der Gründung einer republikanischen Partei tragen. Dies meldet wie gesagt die "O.N.", die Hüterin des die Fürstentreue und die monarchische Staatsform fordernden Programmes der christlichsozialen Volkspartei, und meldet es in einer Form, aus welcher jeder Voreingenommene schliessen muss, dass der Artikler dem republikanischen Gedanken wohlwollend gegenüber steht.
Wir überlassen es den zuständigen Stellen, darüber zu urteilen, wie weit republikanische Bestrebungen mit dem Strafgesetzbuche in Widerspruch stehen. Aber der Tatsache gegenüber, dass der Herr Artikelschreiber die Anwendung des Strafgesetzes den gedachten Bestrebungen gegenüber zum vornherein als ausgeschaltet darzustellen versucht, berechtigt denn doch zu starkem Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Behauptung, dass er nicht als Rechtfertiger jener Strömung spreche.
Jedenfalls wird nun aber die christlichsoziale Partei entweder wesentliche Punkte ihres Programmes ändern oder verschiedene bisherige Anhänger ausscheiden müssen.
Wir aber weisen dieses neue Kampfmittel entschieden zurück, ein Kampfmittel, das wir gerade in der gegenwärtigen Zeit nicht verstehen können, wo allein unser Landesfürst [Johann II.] uns die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten der Währungsänderung unter Bringung persönlicher und grosser Opfer überwinden hilft, weisen es aber vor allem zurück als treue Liechtensteiner.
Wenn nun als Gründe für die angebliche Berechtigung jener Bestrebungen die Verfassungsfrage herbeigezogen wird, erstens wegen ihrer Verzögerungen und dann wegen der zu wenig fortschrittlichen Bestimmungen des der Verfassungskommission vorliegenden Entwurfes [3], so sei nur kurz auf folgendes hingewiesen.
Seine Durchlaucht der Herr Landesverweser [Prinz Karl] hat bereits im Februar 1919 einen Gesetzentwurf in der Verfassungskommission eingebracht, durch welchen die wichtigsten, vom Landtage gewünschten Neuerungen geschaffen werden sollten. [4] Wer dann die weitere Verhandlung darüber vereitelte und damit die ganze Frage auf die lange Bank schob, weiss am besten der Herr Schriftleiter der "O.N." [Wilhelm Beck]. Warum wurde übrigens diese Sache nicht im Landtage, sondern immer nur bei sonstigen Versammlungen und in der Zeitung nachdrücklich immer wieder betrieben? Ich gestehe, ich hätte gewünscht, dass der Landtag als das berufenste Organ die Verfassungsfrage mehr gefördert hätte, wenn auch andere dringliche Fragen vielleicht nicht viel Zeit dafür übrig liessen.
Ein Verfassungsentwurf nun, der wie der vorliegende Regierungsentwurf vorsieht, dass alle nicht dringlichen Gesetze der Volksabstimmung unterzogen werden müssen, wenn eine bestimmte Zahl Wahlberechtigter dies verlangen, bedeutet denn doch in den Augen eines gewöhnlichen Sterblichen einen gewaltigen Fortschritt im Sinne einer Erweiterung der Volksrechte und ein weitgehender Verzicht des Fürsten. Wenn auch die Zahl 600 für die erforderlichen Unterschriften eines derartigen Abstimmungsbegehrens, oder die Zahl 1000 bei anderen Volksbegehren auf Aufhebung oder Erlass von Gesetzen etwas hoch gegriffen erscheint, so ist doch gewiss nicht gesagt, dass diese Zahlen nicht durch Beschluss der zuständigen Stellen in der endgültigen Verfassung geändert werden könnten.
Die Vorsehung dieser Volksabstimmung ist unseres Erachtens die beste Gewähr dafür, dass der Schöpfer jenes Verfassungsentwurfes ein wirklich fortschrittliches Staatsgrundgesetz schaffen will. Die Auffassung wird noch bestärkt durch die Tatsache, dass der gleiche Entwurf die Schaffung eines Wirtschaftsrates vorsieht, welchem alle wirtschaftlichen Angelegenheiten über Antrag der Regierung, Beschluss des Landtages oder des Volkes zugewiesen werden können. Diesem Wirtschaftsrate, der aus15 Mitgliedern bestehen soll, würden neun Angehörige des Bauernstandes und je zwei Mitglieder des Handels- und Gewerbestandes, des Arbeiterstandes und der freien Berufe angehören. Die Beschlüsse des Wirtschaftsrates hätten die gleiche Wirkung wie Landtagsbeschlüsse.
Wenn ein Verfassungsentwurf mit derartigen Neuerungen zum vornherein als unannehmbar bezeichnet wird, so drängt sich mir der Gedanke auf, dass nicht zuletzt der darin enthaltene grosse Fortschritt die geheime aber ausschlaggebende Begründung für das "unannehmbar" ist.
Ich möchte nur wünschen, dass der Entwurf ehestens in unserer Presse vollinhaltlich zum Abdrucke käme, damit das Volk, dem er eine grosse Erweiterung seiner Rechte bringen will, selbst urteilen könnte.
Auf die nach der "O.N." beabsichtigte geistige Ermüdung arbeiten gewisse Praktiken mehr hin, als der von unserer Regierung in der Verfassungsfrage begangene Weg.
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