Artikel in den "Oberrheinischen Nachrichten" [1]
4.9.1920
Vom Tage
Manche erwarten immer noch eine Klärung der Verfassungskrise und der damit im Zusammenhang stehenden Fragen. Zu dieser Erwartung fühlen und glauben sie sich umso mehr berechtigt zu sein, als dies in mehrfachen Äusserungen vor der Ankunft des Landesfürsten [Johann II.] [2] der Fall war. Personen in beiden Lagern versuchen eine Klärung der Lage herbei zu führen. Die jüngst beim Fürsten in Audienz gewesene Arbeiterdelegation aus der Schweiz hat erklärt, sie wolle vorerst, auf dem Boden einer demokratischen Verfassung stehend, eine vermittelnde Rolle einnehmen, die Postulate der neuen Zeit seien auch die ihrigen. [3] Diese einigenden Rollen sind ein schwacher Lichtblick in die zweifellos unerfreuliche Lage unseres Ländchens, das eben auch mit seiner Verfassungskrisis verspätet dasteht. Eine vermittelnde Rolle vermissen wir bisher leider vom Landesfürsten und insbesondere seinen einheimischen und fremden Ratgebern. Mehr denn je wäre es notwendig, in die verworrenen Lage mit einem fürstlichen Worte einzugreifen, das sich über alle für die heutige Zeit, mit ihrer Umwertung alles Geschichtlichen, entsprechend den Bedürfnissen und der Lage des Landes hinwegsetzen würde. Vielfach kann man nicht recht verstehen, wie Personen zu Rate gezogen werden, die öffentlich nicht einmal einen grossen Teil des Volkes hinter sich haben. Schon im letzten Herbst ist auf ähnliche Weise vorgegangen worden.
Auf der andern Seite gibt es Leute, die den Glauben an eine friedliche Lösung der Krisis mehr oder weniger verloren haben.
Diese Bürger befinden sich nicht nur in den Lagern beider Parteien, sondern auch ausserhalb derselben. Wie ein Fluch wirkt die Hinauszögerung so mancher Angelegenheit des Landes und damit bleibt wieder manche Sache liegen. So kann es nicht mehr weiter gehen und im Herbst muss es eine Klärung geben, hört man vielfach im Volke. Und es sind vielleicht noch lange nicht die Schlimmsten, die sich derart äussern. – Gemunkelt wird auch davon, dass man in den Kreisen, die eine andere Verfassungsreform als die Anhänger und Freunde der Volkspartei wollen, im Stillen Vorbereitungen zu einer Feier des 80. Geburtstages des Fürsten am 5. Oktober 1920 treffen will. Es solle angeblich damit ein Gegenstück zum 7. November geschaffen werden. [4] Was Wahres an der Sache ist, können wir nicht vollständig feststellen; immerhin scheinen manche Kreise diesem Gedanken nicht abhold zu sein. Heute schon machen wir unsere Leser auf diese Erscheinung aufmerksam, damit sie sich nicht überraschen lassen. Also auch hier die Einseitigkeit.
Ernstlich tragen sich manche Kreise mit der Gründung einer republikanischen Partei in der Verzweiflung darüber, dass dem Liechtensteiner Volke nicht das Mindestmass an gesetzlich festgelegten Rechten bei aller Wahrung der monarchischen Staatsform zukommen soll wie den Nachbarvölkern. Der Satz "wir bleiben beim Alten" und die damit im Zusammenhang stehende Politik des Zögerns, Zauderns und Abwartens in der Meinung, dass die Bürger allmählich an ihren eigenen satt werden [!], soll auch hier sein Kunststück verüben. Das aus der Literaturgeschichte [be]kannte Gesetz der geistigen Ermüdung soll auf politischen Gebieten seine Wirkungen zeigen. In der Tat hört man oft Stimmen, die dieser Ermüdung nach und nach unterlegen sind. Wir erlich zeigen. [!] Auf Beispiele treten wir nicht ein. Einer der grössten Fehler unserer Vorfahren war, dass sie diesem Gesetze der geistig-politischen Ermüdung nach und nach unterlegen sind. Wir erinnern an die Erscheinungen vor 1718 und um diese Zeit herum, um die Jahre 1809 und folgende, wo die Willenskraft des Volkes erlahmt war und sich in vieles fügte; wir erinnern uns jüngerer Zeiten, an die Zeit von 1848 und folgende. Welche Volksforderungen und mit welcher Stosskraft wurden sie ausgestellt (mehr Volksrechte, Verlegung der Instanzen ins Land, Einführung der Institution des Landammanns usw.) und welche wurden nach 14 Jahren, 1862, in der heute noch bestehenden [Verfassung] [5] erreicht! Ein schlagendes Beispiel wie infolge der Gesetze der geistig-polit. Ermüdung in Verbindung mit der Zaudererpolitik fast nichts von den Volksforderungen erfüllt worden ist. Diese Politik wollen wir jenen, die ihr – berechtigtes oder nicht berechtigtes – Ideal in einer Änderung der Staatsform erblicken und die Rechte des Volkes zum sichtbaren Ausdrucke gelangen, nicht mehr mitmachen. Wir bedauern diese Erscheinung, die sich so leicht hätte bei gut willigen Entgegenkommen vermeiden lassen. Glaube man nicht – wir sagen dies nicht etwa als Rechtfertiger jener Strömung – man könne heute in jene republikanische Erscheinung mit Gewalt und mit den Bestimmungen des Strafgesetzbuches unterdrücken! Ganz abgesehen davon, dass in der ordnungsmässigen Gründung einer solchen Partei m. E. das Strafgesetzbuch seine Handhabe bietet, scheitert jedes gewaltsame Einschreiten aus praktisch-politischen Gründen. – Nicht wenige sind es nämlich, die sich heute zur republikanischen Staatsauffassung bekennen.
Bekämpfen wir diese Erschienung gemeinsam und dadurch, dass wir in Liechtenstein endlich echt demokratischen Volksforderungen nachgeben und sie verwirklichen. Noch ist Zeit und sicher auch Aussicht auf Eindämmung jener Bewegung vorhanden. Es gehört ein Aufrichten, ein Lossagen von alten Vorurteilen dazu und ein Anbequemen an die neuen Zeiten, dann ist Einigung, ist Friede und Wohlfahrt möglich, die unserem Lande notwendig sind.
Der neue, der Verfassungskommission zum Studium übermittelte Verfassungsentwurf [6] ist – das ist heute schon in aller Offenheit zu sagen – für jene. die auf dem Ausbau eine demokratischen Verfassung bestehen, in seinen meisten Bestimmungen unannehmbar, eine arge Enttäuschung. Vorerst haben wir keinen Grund, den guten Worten des Verfassers [Prinz Karl] anzuzweifeln. Solange aber Bestimmungen jenes Entwurfes, wie noch nach zu weisen sind wird, hinter der alten Verfassung zurück stehen, ja, so lange ein so einseitiger Geist aus ihr hervorleuchtet, kann eine friedliche Lösung, die wir nun verlangen, nicht möglich sein. Doch der Leser mag demnächst sein Urteil selbst fällen.
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[1] O.N., Nr. 71, 4.9.1920, S. 1.
[2] Der Fürst war am 21.8.1920 in Liechtenstein eingetroffen.
[3] Zu dieser Vorsprache, die am 28.8.1920 stattgefunden hatte, vgl. das "Eingesandt" in L.Vo., Nr. 70, 1.9.1920, S. 2; O.N., Nr. 70, 1.9.1920, S. 2.
[4] Am 7.11.1918 wählte der Landtag nach dem Rücktritt von Landesverweser Leopold von Imhof ohne Wissen des Fürsten einen Vollzugsausschuss.
[5] Konstitutionelle Verfassung vom 26.9.1862 (LI LA SgRV).
[6] Der Verfassungsentwurf von Prinz Karl (LI LA V 003/0890).