Joseph Rheinberger.
Necrolog, 28. November 1901.
Wenn Rheinberger in den letzten Jahren immer wieder gelegentlich den Gedanken äusserte, er wolle in absehbarer Zeit sein Amt als Lehrer des Kontrapunkts an der Münchener Akademie der Tonkunst niederlegen, stiess er auch bei den ihm Näherstehenden auf Bedenken und Zweifel, ob er sich wirklich zu diesem Schritt entschliessen könnte. Denn wir alle wussten ja, wie sehr einerseits seine Schule ihm ans Herz gewachsen, wie es ihm ein Lebensbedürfnis geworden war, zu lehren; andrerseits schien es unmöglich, sich das Münchener Konservatorium ohne Rheinberger vorzustellen, das Institut vorzeitig jenes Mannes beraubt zu denken, der über dreissig Jahre lang das meiste zu seiner Blüte beigetragen hatte.
Jetzt ist offenbar geworden, dass der Meister mit der Pflichttreue und dem sittlichen Ernst, die sein ganzes Leben und Tun kennzeichnen, auf seinem Posten ausgehalten hat, solange es ging. Viel stärker, als man wähnen mochte, hatte seit langem ein tückisches Leiden den Organismus des Künstlers erschüttert. Den neuen Anstürmen der letzten Wochen vermochten die geschwächten Kräfte nur mehr den Widerstand der Verzögerung entgegenzusetzen.
Über Rheinbergers äusseren Lebensgang ist in dieser Zeitung schon berichtet worden. So kann ich mich auf eine Überschau seines künstlerischen Werdens und Wirkens beschränken, soweit bei der ungemeinen Fruchtbarkeit des Meisters eine solche zu geben der Raum dieser Blätter gestattet.
Der Ausgangspunkt für Rheinbergers Schaffen liegt vorzüglich in den Werken, die Beethoven ungefähr in den Jahren 1800 bis 1817 schrieb, im Beethoven der zweiten Periode, und in Schubert. Vermutlich war hier in jungen Jahren die künstlerische Persönlichkeit Franz Lachners für Rheinberger vorbildlich, deren beste Emanationen gleichfalls in der genannten Sphäre wurzeln. Während aber bei Lachner (geb. 1803) sehr verständlich erscheint, nicht, dass er sich jenen Schumanns gänzlich entzog, wird letzteres bei Rheinberger bereits charakteristisch, und das um so mehr, als der Künstler in jungen Jahren jenes Feld mannigfach bebaute, auf dem Schumann sich am genialsten betätigt hatte, das Charakterstück für Pianoforte. Von den musikalischen Äusserungen romantischen und neuromantischen Geistes, die Wind und Sturm aus Nord- Mitteldeutschland und dem Schweizer Exil in zunehmender Stärke auf die bayerische Hochebene geweht hatten, ist nur Mendelssohns Art für Rheinberger gelegentlich massgebend gewesen.
Ganz anders als die neuromantische Kunst wirkten die neuausgegrabenen Werke Bachs auf ihn.
Der Einfluss Bachs auf die gesamte Komponistenwelt des 19. Jahrhunderts ist ein herrliches Zeugnis dafür, dass es möglich ist, das Erbe der Väter späteren Generationen lebendig zu erhalten, zugleich der grösste Erfolg, den die Musikwissenschaft in ihrer Rückwirkung auf die Praxis bis jetzt zu verzeichnen hat. Bachs Werke wurden für Rheinberger der dritte jener Bronnen, zu denen er immer wieder zurückkehrte, sich Stärkung und neuen Mut zu trinken.
Freilich nahm unser Künstler auch Bach auf seine Weise in sich auf. Vor allem vertiefte er an Bach die angeborenen Fähigkeiten für kontrapunktische Kunst in grandioser Weise. Von dem universal-deutschen Grundzug der Bachschen Musik hingegen erscheint Rheinberger fast gänzlich unberührt. Er blieb ein ausgesprochen süddeutscher Komponist, süddeutsch im Sinne einer gewissen Einseitigkeit der Gefühlswelt, wie sie vor dem grossen Kriege in weiten Kreisen der Bevölkerung heimisch gewesen und heute noch in den gebildeten Kreisen der Alpenländer erkennbar ist.
Aus der Welt Bachs und Beethovens, Schuberts und Mendelssohns also stammen die Anregungen, die Rheinbergers zweifelsohne starke Individualität befruchteten. Damit wurde er kein Eklektiker; Rheinberger ist gelegentlich monoton und inspirationslos, niemand aber wird ein Stück von ihm aufweisen können, das musikalisch stillos genannt werden könnte. Alles, was ihm von aussen zukam, hat in seiner Persönlichkeit die individuellste Umprägung empfangen und ist als ein selbständig Neues aus ihr wieder hervorgegangen.
Vergleichende Urteile setzen mit Recht zunächst bei thematischen und motivischen Reminiscenzen ein. An ihnen ist bei Rheinberger so wenig Mangel, wie bei anderen namhaften Meistern, vom 17. Jahrhundert und früher angefangen bis auf den heutigen Tag. Direkte Anklänge solcher Art finden sich besonders an Beethoven in den beiden Symphonien (op. 10 und 87), an Schubert an ausserordentlich vielen Stellen, an Mendelssohn mehrfach, so im ersten Satz seines Streichquintetts, op. 82. Daran ist künstlerisch natürlich nicht viel gelegen. Verwerflich ist nur die Reminiszenz der Stimmung. Wer keine selbständige Stimmung musikalisch hervorzurufen die Kraft hat, der hat den Namen eines originellen Künstlers verwirkt. Selbständige Stimmungen herrschen aber in allen Instrumentalwerken des Meisters. Sie sind nicht sehr vielseitig untereinander, auch an Reiz qualitativ verschieden; aber sie geben unsrer Seele neuen Stoff, schenken in ihrer stärksten Ausprägung Anregungen beruhigender und beglückender Art. Ich glaube das Richtige zu treffen, wenn ich als den wichtigsten dieser spezifisch Rheinbergerschen Stimmungskomplexe hervorhebe: Beschaulichkeit, milde Wärme, schlichte, männlich-innige Empfindungen.
Diese Weisen decken sich, wie es ja nicht anders sein kann, auch am meisten mit seinem äusserlich-persönlichen Wesen. Wo sich Rheinberger dieser Art besonders hingibt, z. B. im Adagio seines Quartetts, op.89, dem seiner zweiten Symphonie, op.87, und in der Welt so vieler seiner zweiten Themen in den Sonatensätzen aller Art, erscheinen mir immer wieder die freundlichen weiten Täler seiner Heimat vor Augen, von warmer Frühsommersonne bestrahlt.
Das Erschaute festzuhalten und es der Mitwelt zu überliefern, hiefür stand Rheinberger jegliches Rüstzeug der Kunst willig zur Verfügung. Dass es ihm ein leichtes gewesen wäre, sich auch der Mittel des modernen Orchesters zu bedienen, kann kein Zweifel sein. Allein er hatte keine koloristische Ader und wollte diese prachtvolle Palette nur wenig nützen, wie ihm auch die Würze unsrer modernen Harmonik allzu scharf und übertrieben erschien. Das war sein gutes Recht als älterer Meister; denn das Gefühl für Harmonie und Farbe ist im Wandel der Generationen in stetiger Umbildung begriffen; bei den Pionieren aber finden wir Rheinberger nur in vereinzelten Fällen.
Gewisse Stücke sind dennoch vortrefflich instrumentiert, so beispielsweise die übertragene Passacaglia (op. 132b), und ebenso finden sich gelegentlich reizvollste harmonische Pointen, wie z.B. das wechselvoll beleuchtete As der Bratsche zum Schluss des letzten (C-dur) Satzes in seinem ersten Streichquartett (op.89). Rheinberger konzentrierte seine ganze Kunst auf die Komposition an sich, auf den Aufbau und die scharfe Zeichnung der Kontur. Unklarheiten und Unlogik gibt es nirgends in seinen Werken. Mit ihm ist ein Meister der Architektonik, ein Künstler des Planes ins Grab gesunken, wie wir ihrer bei jung und alt nunmehr ganz wenige besitzen. Auf diesem Feld übertrifft er da und dort mühelos seine Vorbilder Schubert und Mendelssohn, den ersten, ihm in der Erfindung so sehr überlegenen, durch die Straffheit und Konzision der Entwickelung, den anderen durch die Beseelung der formalen Mittelglieder, die Beethoven längst besass und Mendelssohn vielfach wieder aufgab.
Hier sehen wir bei Rheinberger auch gelegentlich spätbeethovensche Einflüsse am Werk. Mit dieser Kraft, wachsen und werden zu lassen, vor uns aufzubauen, erweckt der Meister in seinen besten Stunden die Empfindungen wahrhafter Grösse. Insonderheit sind es viele seiner Durchführungen, die überzeugend wirken, und noch mehr seine Schlüsse, welche die Stimmung völllig zum Ausklingen bringen und dabei den Ausdruck bis zum letzten Atemzug in Energie erhalten. So entlässt er uns oft als ein Reicher, da er in Armut begonnen. Denn manches erste Thema seiner Hauptsätze, wie andere Anfangsthemen, präsentieren sich zunächst reizlos und anscheinend wenig entwicklungsfähig. Rheinberger hat sich seine hohe Kunst des Aufbaues nicht mühelos angeeignet. Man braucht, um dies zu erkennen, nur das Vorspiel der Wallensteinsymphonie (op. 10) in bezug auf Stoff und Verarbeitung, oder wenn man hier der in diesem Opus herrschenden ästhetischen Konfusion die Schuld geben will, den überlangen ersten Satz des Trios, op. 37, gegen Späteres zu halten, z.B. den ersten Satz der symphonischen Sonate, op.47. Fraglos hat unser Künstler auf diesem Gebiet viele Versuche gemacht, an denen er schliesslich gross wurde, die er aber in richtiger Selbstzucht der Öffentlichkeit nicht übergab.
Dass Rheinberger durch seine Kunst des Kontrapunktes und des Plans nicht dahin geführt worden ist, sich häufiger auf dem Gebiet der Symphonie zu versuchen, beruhte wohl auf selbstkritischer Würdigung der anderen Faktoren, die hiefür noch in Frage kommen. Merkwürdig aber ist, dass er erst spät und nur zwei Streichquartette[1] geschrieben hat (Nr. 2 ist op. 147). Ein weiteres Werk für vier Streichinstrumente (op.93) enthält Variationen; eigentlich ist es eine Passacaglia. Wie in seinen reizvollen Klaviertocca- ten (op. 12, 104, 115) greift Rheinberger in dieser und anderen Passacaglias mit Glück auf die alten Formen zurück und hat dabei, wie überall, wo er dem Prinzip der Variation begegnete, für das er kraft seiner Technik besonders gerüstet war, Wertvolles zutage gefördert.
Der Schwerpunkt von Rheinbergers Orchestermusik liegt in seinen Ouvertüren, der seiner Kammermusik in den Werken für und mit Pianoforte. Unter den ersteren nimmt jene zu Schillers Demetrius (op. 110) wohl den vornehmsten Platz em. In ihr knüpft Rheinberger an ein altrussisches Volkslied an, „Der falsche Demetrius“ (17. Jahrhundert), wie er überhaupt die Vorliebe der Romantiker für alte oder fremde Volkslieder und Tänze als stoffgebendes Element gelegentlich teilt. Auch in die köstliche Kapuzinerpredigt der Wallensteinsymphonie ist ein bekanntes Lied der Reformationszeit „Wilhelm von Nassau“ verwoben, während manche letzte Sätze seiner Werke sich als Tarantella usw. präsentieren.
In Rheinbergers Kammermusik verdient das Es-dur-Quartett, op.38, den ersten Platz. Es ist von seltener Frische und besonders in den beiden ersten Sätzen männlich und reich. Aber auch in dem erst vor wenigen Jahren erschienenen vierten Trio (F-dur, op. 191) hat der Meister wieder jugendliche Töne angeschlagen, wie er überhaupt immer wieder über jene durchschnittliche Trockenheit hinweggekommen ist, die vielen seiner Schöpfungen, zum Teil mit Recht, zum Vorwurf gemacht wird. Durch irgendeinen Zug auch der Erfindung spricht Übrigens fast jedes seiner Kammermusikwerke an; wie fein ist z.B. das Ritornell im Trio des Scherzo von op. 121 (Klaviertrio Nr.3), der Anfang der zweiten Violinsonate (op. 105) usf.
Die Zahl der Klavierwerke Rheinbergers ist gross. Ich bevorzuge unter ihnen die kontrapunktischen, vor allem aber die oft sehr geistreichen Variationen und die Capricci (z. B. op. 43, Capriccio giocoso). Von den Phantasiestücken ist op. 23 ein echter Rheinberger. Dank der Kraft seiner kombinatorischen und konstruktiven Kunst werden die freien Stücke meist je länger, je besser. In seiner selbständigen Weise hat Rheinberger auch nicht die allgemeine Scheu seiner Zeitgenossen vor der Klaviersonate geteilt, sondern deren vier geschrieben, von denen jedenfalls die erste und dritte (op.99)[2] als wirkliche Bereicherungen der Literatur gelten müssen.
Bemerkenswert ist auch der Klaviersatz aller dieser Werke. Auch hier geht Rheinberger seinen eigenen Weg, und in den Problemen seiner ausgesprochen männlichen Schreibart werden geübte Spieler und Spielerinnen vielerlei technische Anregungen finden. Auch das ist dem Meister anzurechnen, dass er in seiner Kammermusik nicht zur Erweiterung jener Kluft beigetragen hat, die heute vermöge der übergrossen technischen Schwierigkeiten in gerade den wertvollsten einschlägigen Werken sich zwischen Kunst und Volk, d.h. den Pflegern der Hausmusik, aufgetan hat. Auf einem Gebiet der Instrumentalmusik war Rheinberger berufen, als Neuerer eine entwicklungsgeschichtlich bedeutende Stellung einzunehmen. Das ist die Orgelkomposition.
Rheinberger ist der Vater der Orgelsonate, die er geläutert hat von den süsslichen, schwächlichen, orgelwidrigen Zügen, die seine Vorgänger noch an diesen Gebilden geduldet hatten. Gerade hier trugen die Bach-Studien des Meisters reiche Früchte. Dass er mit seiner Reform oder vielmehr Neuschöpfung von Bachschen Eindrücken ausging, zeigt ein Blick in op.27, die älteste unter neunzehn Gefährtinnen[3]. Bei Bach und dem eigentlich strengen Stil ist aber Rheinberger hier in der Folge keineswegs stehen geblieben. Gleich den technischen Anforderungen ist die Erfindung in diesen Stücken zunehmend eigenartig geworden, und eine Fülle seltsamer Gedanken und Gestalten blüht uns aus den gestrengen drei Systemen dieser Werke entgegen.
Dem Künstler, der selbst ein trefflicher Orgelvirtuos war (ein Schüler des greisen Dr. Herzog), galt die Orgel keineswegs als ausschliesslich kirchliches Instrument, wie auch daraus hervorgeht, dass er weltliche Einzelstücke für sie komponierte; im höchsten Mass aber galt sie ihm als ein Instrument, das seine eigenste Setzart hat, so gut oder mehr als jedes andere. Im übrigen finden sich naturgemäss mit die schönsten Fugen des grossen Fugenmeisters in diesen Orgelsonaten, so in Nr. l, 4 (chromatische), II usf. Die Orgelsonaten führten Rheinberger von selbst zur Wiedererweckung des Orgelkonzertes. Vor allem das erste der beiden in Frage kommenden Werke (op. 137, F-dur), ein Stück, an dem Rheinberger in besonderer Schaffensfreude gearbeitet zu haben scheint, fesselt durch Frische, Kernigkeit, Stil und - instrumentales Kolorit. Das begleitende Orchester besteht aus Streichern und drei Hörnern und ergänzt mit ihnen in feiner Beobachtung jene Farben, welche die Orgel nicht gibt.
Rheinbergers Grösse ruht in seinem absoluten Musikertum.
Bei Gebrauch des Kennworts „absolute Musik“ wird freilich vergessen, dass zahlreiche Wurzeln der so bezeichneten Kunst vom Absoluten hinwegleiten zu Poesie und Tanz als ihren Anfängen; ebenso häufig aber, dass es selbständige Anfänge und eine selbständige Entwicklung der Musik gegeben hat, deren Erreger der Instrumentalspieltrieb und die Bevorzugung des Allgemeinen, des Stimmungsausdrucks, vor dem Besonderen gewesen sind.
In der grossen Bewegung des 19. Jahrhunderts, in welcher die beiden Poesiearten, wie Cornelius einmal von Dichtung und Musik sagt, einander so energisch wieder zustrebten, stand Rheinberger beiseite. Die Gründe hierfür lagen in der spezifischen Art seiner musikalischen Begabung und Erziehung, sodann im Mass seiner ästhetischen und allgemeinen Bildung. Auch der Umstand, dass Rheinbergers ihn hochverehrende und treu geleitende Gattin ohne aussergewöhnliche Begabung dichtete und er zahlreiche dieser Dichtungen komponierte, fällt ins Gewicht. Der „absolute“ Musiker lässt sich bei Rheinberger zu wenig vom Dichter einreden. Seine Gefühlswelt war nicht vielseitig und reizbar genug, um den stets neuen Anforderungen der Poesie stets neuartig und tiefgehend zu folgen.
So ist Rheinberger als Vokalkomponist vielfach bei Andeutung der allgemeinen Stimmung der ergriffenen Dichtungen verblieben, vielfach hat aber auch kurzweg der Musiker nach der ersten Anregung alles weitere abgelehnt. Der Meister beginnt über den Worten zu musizieren und schliesslich dahin zu treiben, wohin ihn eben das Motiv und dessen Entwicklung führte, nicht der Dichter und seine Vorstellungswelt.
Freilich gibt es Dichtungen, die auch das, ihrer aber weit mehr, die das nicht vertragen. Und so ergibt sich als Resultat, dass hier Rheinbergers Produktion ihrem Gesamtwerte nach hinter seinem instrumentalen Schaffen zurückblieb, obwohl er gerade für Chorwerke das unschätzbare Rüstzeug seiner polyphonen Kunst mitbrachte. In zweiter Linie finden sich indes auch hier Ausnahmen genug, wo der Musiker sich vom Dichter in neue Regionen mitfortreissen liess oder aber dieser ihn dahin geleitete, wo er selbst schon lange zu Hause war.
Der Zwiespalt zwischen musikalischen und poetischen Impulsen zeigt sich schon bei jener eigenartigen Verbindung, welche Poesie und Musik in der Programmusik eingehen. Rheinberger hat ihr besonders als jüngerer Künstler nicht selten gehuldigt, in Klavierstücken mit vorgedruckten Programmen, vor allem aber in seinem Wallenstein. Auf dem Titelblatt dieses Werkes stand zuerst „Symphonie“, später schrieb der Komponist „symphonisches Tongemälde“. Der Titel wechselte, aber der Zwiespalt im Innern blieb bestehen. Das Werk pendelt zwischen allgemeinem Stimmungsausdruck, realistischem Detailausdruck (Kapuzinerpredigt, Seni, Katastrophe) und freiem Musizieren ad libitum hin und her und schädigt mit diesem unvermittelten Wechsel des ästhetischen Prinzips unter den verschiedenen Sätzen, wie innerhalb eines einzelnen Satzes, das Ganze, in dem an sich viel schöne und charakteristische Gedanken aufgehäuft sind. Solche Unklarheit ist Rheinberger nicht zum zweitenmal begegnet. Er zog sich später mit seinen poetisierenden Orchesterkompositionen auf die Einsätzigkeit zurück und hat da etwa in der Art Mendelssohns in seinen Vorspielen und Ouvertüren zwischen den fraglichen Faktoren vermittelt. Übrigens ist das Scherzo im Wallenstein mit seiner tonmalerischen Prägnanz ein sehr merkwürdiges Stück innerhalb des ganzen Rheinbergerschen Schaffens.
Noch evidenter wird der Zwiespalt natürlich in der Vokalmusik. Rheinberger hat an 70 Lieder für eine Singstimme und Begleitung geschrieben. Unter ihnen nehmen eine Ausnahmestellung die Kinderlieder (op. 152) ein, die dem Meister besonders lagen, wie er auch in seinen Singspielen für die Kleinen (so im Zauberwort op. 153) den Ton ausgezeichnet traf. Auch unter den übrigen Liedern ist wertvolles Gut (z.B. op.41 Nr.7, op. 136 Nr.10[4]), vor allem haben sämtliche den Vorzug, wirklich Lieder zu sein. Viele aber sind matt im Ausdruck, ohne den Reiz der intimen Ausdeutung des Dichterwortes neben dem Treffen der allgemeinen Stimmung, und zuweilen besteht auch mit dieser nur geringer Kontakt.
Eigenartig gestaltete sich auch das Verhältnis von Ton und Wort in Rheinbergers Kirchenmusik. Der Meister war eine tiefreligiöse und kirchlich strenggläubige Persönlichkeit. Er hat aus innerer Nötigung eine grosse Anzahl kirchenmusikalischer Werke aller Art geschrieben, Messen, Hymnen, Motetten usf., welche auf alle Fälle als Schöpfungen eines meisterlichen Musikers den Vorzug gegenüber dem jammervollen Zeug verdienen, mit dem gerade auf diesem Gebiet der Dilettantismus sich breit macht.
Aber auch hier kam Rheinberger gelegentlich zwischen zwei Stühle zu sitzen. Bekanntlich hat die moderne katholische Kirchenmusik das Prinzip des strengkirchlichen Ausdruckes, der exakten Rücksicht auf die liturgischen Texte und andere Leitsätze auf ihre Fahne geschrieben. Nach den geschichtlichen Erfahrungen mit Recht. So sehr sich Rheinberger hier nun befliss, diesen Forderungen nachzukommen, war er doch viel zu sehr Musiker und polyphoner Gestalter nach seiner Art, als dass er sich stets hätte von ihnen bestimmen lassen. Hier sah er sich aus absolut musikalischen Rücksichten genötigt, Textworte zu wiederholen oder ganz auszulassen, dort zu verbinden, was dem Sinn nach getrennt ist, den Wortakzent dem rhythmischen zu opfern usf. Dementsprechend ist Rheinberger auch der Vorwurf subjektiver Religiösität und mangelnder Kirchlichkeit nicht erspart worden. Zum Glück für den Meister denken nicht alle Chorregenten und Domkapellmeister streng. Wäre es der Fall, so müssten diese Werke wohl in den Konzertsaal flüchten.
Die Bedachtnahme auf Kirchlichkeit hat Rheinberger gelegentlich aber auch zum Entdecker gemacht. In Anlehnung an die Kirchenmusik des 16. und 17. Jahrhunderts schrieb er sein Requiem op. 84, vielleicht das erste solchen Tones, das seit Kerlls Tagen (1669) in München von einem bedeutenden Meister komponiert worden ist. Ich vermute, dass Rheinberger die Anregung hiezu durch seinen Lehrer Julius Joseph Maier gekommen war. Mehr Beachtung, als sie bislang fanden, verdienen übrigens die Motetten, so op. 133 (vier sechsstimmige), besonders Nr.4[5].
Sicherheit des Aufbaues, Kunst der Stimmführung, Fluss und Wohlklang zeichnen wie die geistlichen, so die weltlichen Chorwerke des Meisters aus. Kommt zu diesen Eigenschaften noch, dass es dem Dichter gelang, den Künstler mit seiner Poesie zu erfüllen, dann gab es „einen guten Klang“. Dies ist vielleicht am meisten der Fall in der Ballade für Männerchor „Das Tal des Espingo“ (op. 5O), Dichtung von Paul Heyse, in deren Orchesterbegleitung nur das Blech etwas dick wirkt. Von den vielen anderen ,grösseren und kleineren Chorwerken gebe ich, soweit ich sie kenne, der Ballade „Kirchen auf Eberstein“ (op. 97) und dem ersten Tell des „Christophorus“, Legende für Soli, Chor und Orchester op. 120 (Text von Rheinbergers Gattin), mit seinen Chören und dem schönen Terzett den Vorzug. Auch manches frische Lied für Männerchor hat Rheinberer gesetzt und sich gerade hiedurch in den weitesten Kreisen bekannt gemacht.
In einer so universellen Tätigkeit, wie der unseres Meisters, durften natürlich dramatische Werke nicht fehlen; ausser Schauspielmusiken (zu Calderons „Wundertätigem Magus“ und Raimunds „Unheilbringender Krone“) schrieb Rheinberger eine romantische und eine komische Oper: „Die sieben Raben“ (op.20) und „Des Türmers Töchterlein“ (op.70). Unter allen Gebieten seines Schaffens lagen wohl hier am wenigsten die Wurzeln seiner Kraft.
Das letzte Stück, an dem Rheinberger arbeitete, soll ein Credo gewesen sein; das letzte Werk, das er veröffentlichte (op. 195), ist schon vor fast zwei Jahren komponiert. Es ist eine Fuge zu sechs Themen für Orchester unter dem Titel „Akademische Ouvertüre“, des Künstlers Dank an die philosophische Fakultät der Münchener Universität für die Verleihung der Ehren-Doktorwürde. Seinen künstlerischen Nachlass hat der Meister der Münchener Hof- und Staatsbibliothek vermacht.
In Rheinberger verliert nicht nur die gegenwärtige Musikwelt den hervorragensten aller Kontrapunktlehrer, die gesamte Musikgeschichte kennt nur wenige Kräfte von ähnlicher Bedeutung. Was der Meister auf diesem Felde der Kunst für Dienste leistete, wird erst die Nachwelt voll erkennen.
Das zunächst Auffälligste an Rheinbergers Lehrtätigkeit ist, dass er auf die Richtung seiner begabteren Schüler gar keinen Einfluss geübt hat. Er gab keinem mit, das ihn gehindert hätte, später seinen eigenen Pfad zu wandeln. Alle aber, die bei ihm lernen wollten, machten hier eine Schule des Handwerks durch, wie sie gründlicher nicht gedacht werden kann. Humperdinck, Thuille und wie sie alle heissen, deren Namen heute Klang und Ansehen besitzt, sie können bezeugen, was sie Rheinberger verdanken. Die Methode dieses grossen Pädagogen war die einfachste von der Welt, ihr Geheimnis das der mittelalterlichen Bauhütten, der grossen Schulen der Renaissance: strenge Arbeit unter des Meisters Augen. Welch eminenter Musiker dieser Mann war, das können in ganzer Fülle doch nur jene ermessen, die unter ihm an der berühmten, geliebten und gefürchteten Tafel gearbeitet haben.
Die absolute Lauterkeit und ehrfurchtgebietende Reinheit von Rheinbergers Charakter hat sich auch beim Unterricht bewährt. Nie habe ich in unsern Stunden nur ein einziges Wort aus seinem Munde gegen jene hohe Kunst gehört, die ihm so herzlich unsympathisch war. Und das in den 8Oer Jahren, da wir noch um Wagner kämpften. Später sagte mir Rheinberger gelegentlich einmal:
„Ich hätte manchen gerne gewarnt, aber ich hielt es für meine Pflicht, Euch gehen zu lassen.“
Nur einer köstlichen Inkonsequenz erinnere ich mich. In einem Durchgangszimmer neben dem Unterrichtslokal lagen zwei von den Schülern mitgebrachte Partituren auf einem Tisch. Oben der Lohengrin, unten der Freischütz. Rheinberger warf im Weggehen einen Blick in die Bücher und zog dann mit bedeutungsvoller Geste, wie wenn er sagen wollte:
„So gehört sich's“, den Freischütz hervor und legte ihn oben auf.
Nun ist er von uns gegangen, der treue, hochverehrte, geliebte Meister. München, Deutschland, die ganze musikalische Welt trauern um einen grossen Toten. In der Musikgeschichte aber wird sein Name in Ehren weiterleben als der eines hochbegabten Komponisten, eines genialen Lehrers, eines vornehmen, edlen Menschen.
(Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1901 Nr.278).