Würdigung im „Bayerischen Kurier“, München, vom 22. Oktober 1901, anlässlich der Pensionierung Rheinbergers.


Joseph Rheinberger.

„Verachtet mir die Meister nicht und ehrt mir ihre Kunst!“ Wenn diese Worte, die Richard Wagner in der Festwiesenszene der Meistersinger seinem Schusterpoeten in den Mund legt, heute überhaupt Jemand noch für sich in Anspruch nehmen darf, so ist das Joseph Rheinberger, ein Meister im Reich der Töne, ein Meister, der noch in seiner Persönlichkeit als Komponist und Lehrer die Tradition der Klassizität mit sich herüber getragen hat in unsere moderne, hastende Zeit. Reich geehrt und doch in seinem Streben viel verkannt, sieht Rheinberger hinter sich ein Leben voll Arbeit und rastlosem Ringen, eine reichbewegte Zeit voll Kampf und Mühen, aber auch voll ehrlichen Erfolges. Der Satz „Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande“ lässt sich auf Rheinberger ohne Weiteres nicht anwenden. Denn äussere Ehren und Werthschätzung im Kreise seiner Fachgenossen wurden dem Künstler in reichem Masse zu Theil; und dennoch unterliegt es keinem Zweifel, dass Rheinberger's Ruhm als Theoretiker und Kontrapunktiker im Auslande bei Weitem glänzender war als in seiner Münchener Vaterstadt bekannt ist. Bis aus den fernsten Ländern, bis aus Amerika waren, besonders zur Blüthezeit unserer Münchener Akademie der Tonkunst, junge Musiker hieher gezogen, um sich bei Rheinberger in die Mysterien des Kontrapunkts und der Harmonielehre einweihen zu lassen. Als reife, ernste Künstler mit gründlichem Können haben sie München verlassen, in ihren Erfolgen auch zugleich ihres Meisters Ruhm verkündend. Freilich Diejenigen, die Rheinberger's Kunst würdig zu schätzen verstanden, die die keusche Herbheit und gelegentliche Rauheit seiner strengen Weisen richtig erfassten, sind heute selten geworden. Und wenn es schien, als habe in Rheinberger selbst etwas von der antiken Grösse Bach'scher Kontrapunktik Leben und Wesen gewonnen, so war das nur ein Grund, der ihn der heutigen Zeit entfremdete, mit deren modernen Meistern Wagner und Liszt - von ihrer Nachfolge ganz zu schweigen - unser Künstler nie rechte Fühlung finden konnte.

Aber heute, wo der Zweiundsechzigjahrige nach langem segensreichen Wirken als Lehrer der kgl. Akademie der Tonkunst in den wohlverdienten Ruhestand tritt, senkt auch der Gegner die Waffen und beugt sich vor der Grösse des Mannes und seinen Verdiensten um die Kunst, die ihm in ihrem goldenen Buche stets einen Ehrenplatz bewahren wird. Den greisen Meister werden seine Werke überleben, von denen mehr als eines einen dauernden Platz in der Musikliteratur erhalten wird.

Rheinberger gehört zu den produktivsten unserer gegenwärtig lebenden Musiker; seine Opuszahl übersteigt um Beträchtliches die Hundert. Am bekanntesten ist wohl sein Oratorium „Christophorus“ und seine Oper „Die sieben Raben“. Auch seine komische Oper „Des Thürmers Töchterlein“, sein Singspiel „Das Zauberwort“ sowie seine Chorwerke „Klär- chen auf Eberstein“, „Das Thal des Espingo“ und „Toggenburg“ haben viel Anklang gefunden. Bestrittener war die Aufnahme seiner Klaviersonaten und Orchesterkonzerte (wie insbesondere das am 3. Juni dieses Jahres in der Akademie zur Aufführung gelangte G-moll-Konzert)[1]. Vollen Erfolg brachten Rheinberger dagegen stets seine Orgel- und Kammermusikwerke, in denen die Eigenart des Autors wohl am vortheilhaftesten zur Geltung kommen konnte.

Auch an Symphonien und - last not least - Messen hat Rheinberger objektiv Werthvolles geschaffen. Sein stabat mater[2], das seine Frau, eine gefeierte Schriftstellerin (Franziska von Hoffnaass) der Kirche testamentarisch vermacht, hat, wenn es am Charfreitag zu St. Ludwig erklang, wohl jeden Hörer im Innersten ergriffen und erschüttert.

Rheinberger ist ein echtes Münchner Kind, wiewohl er nicht in München selbst geboren ist. Aber seine ganze Thätigkeit, sein ganzes Schaffen konzentrirte sich auf München. Schon 1851 treffen wir ihn in emsigen Studien an der Münchener Akademie, die er 1854 mit Auszeichnung absolvirte, um sich zunächst hier als Musiklehrer niederzulassen. Nachdem er kurze Zeit (1865 bis 1867) als Solorepetitor an der kgl. Hofoper gewirkt hatte, wurde er 1867 zum Inspektor der k. Musikschule und deren Professor ernannt. Zehn Jahre später erfolgte noch seine Ernennung zum k. Hofkapellmeister als Dirigent des k. Kapelichors (dessen Hauptaufgabe - etwa conform dem Berliner Domchor - in der Pflege alter Vokalmusik besteht). Im Jahre 1894 erhob Rheinberger die königliche Gnade in den Adelsstand, 1899 ein Beschluss der Münchner philosophischen Fakultät zum Doctor honoris causa.

Nun will der Künstler, der erst vor wenigen Tagen durch die Verleihung des St. Michaelsordens einen neuen Beweis der ihm allgemein entgegengebrachten Hochschätzung und Anerkennung erfahren hat, von seinem Lehramt an der Münchener Akademie zurücktreten, die seine Verdienste um ihre Sache gewiss nie vergessen wird.

Möge dem Meister noch ein langes otium cum dignitate beschieden sein. Er hat es sich ehrlich verdient.

 

 

 

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[1] G-moll-Konzert = 2. Orgelkonzert op. 177
[2] Sein stabat mater = „Stabat mater“ op. 16, für Soli, Chor und Orchester. Gemäss einer Stiftung der Gattin Rheinbergers war dieses Werk jährlich am Karfreitag in der Basilika von München als Erinnerung an eine schwere Operation aufzuführen. S. 186/Z. 30: op. 37 = recte: op. 34