Gutachten, München 20. Mai 1898
Infolge hoher Aufforderung d/er/ Direct/ion/ d/er/ kgl. Ac/ademie/ d/er/ T/onkunst/ habe ich das Arthur Seidl'sche[1] Elaborat genau durchgelesen und die Überzeugung gewonnen, dass mit demselben für unsere Academie nichts Erspriessliches anzufangen ist. Mit schöngeistig klingenden Phrasen über „Musik-Erziehung“ ist gar nichts gethan - nur das urtheilsunsichere Publikum lässt sich damit verblüffen. Zudem ist unser Kunstinstitut kein Versuchsfeld für imaginäre „Reformen“. Unser Lehrplan ist das Resultat einer dreissigjährigen, allseitigen Erfahrung, der sich nicht auf nebelhafte „Reformexperimente“ einlassen darf.
Dies ist meine aufrichtige Meinung, welche ich mir durch eine vielseitige 40jährige Lehrthätigkeit und Erfahrung erworben.
Jos. Rheinberger.
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[1] Arthur Seidl = (1863-1928) Musikschriftsteller, promovierte 1887 mit der Schrift „Vom Musikalisch-Erhabenen“, 1889 erschien „Zur Geschichte des Erhabenheitsbegriffs seit Kant“.