Boston, den 27ten April 98
903 Boylston Street
Sehr geehrter Herr Professor!
Schon wieder muss ich vielmals um Verzeihung bitten, dass ich trotz meinem Versprechen noch nichts von mir habe hören lassen. Aber seitdem ich meine neue Stellung am hiesigen Conservatorium aufgenommen habe, und so viele andere Geschichten, wie Concerte, Posten etc. etc. meine Zeit so in Anspruch genommen haben, ist es mir kaum möglich gewesen, selbst meine Localcorrespondenz zu beantworten. Aber da mir jetzt Gelegenheit angeboten wird, werde ich mir erlauben, etwas über meine verschiedenen Beschäftigungen Ihnen mitzutheilen.
Erstens bin ich mit meiner Conservatoriumsstellung recht zufrieden. Ich gebe allwöchentlich circa 30 Unterrichtsstunden, unter Orgelspiel und Harmonielehre getheilt.
Herr Chadwick hat, wie Sie wissen, die Stellung des Direktors angenommen und ist dieselbe letzten September angetreten. Unter seiner höchst praktischen und wissenschaftlichen Leitung scheint das Institut bedeutende Fortschritte gemacht zu haben. Wir haben jetzt unser eigenes Streichorchester (die Stimmen der Holzbläser etc. werden durch die Orgel ausgeführt), unseren eigenen Chor von sehr gutem Klang, und noch andere Nebenvortheile; seit der Ankunft Herrn Chadwick's ist eine bedeutende Aenderung in Stimmung und Ziel leicht sichtbar.
Ausser meinen Unterrichtsstunden bin ich Dirigent dreier Chorvereinen; der eine befindet sich in einem Riesengeschäft, dem „Bon Marché“ in Paris ähnlich, dessen Kaufleute und Beamten sammeln sich jede Woche nach Schluss des Geschäfts, um eine Stunde Chorgesangunterricht zu geniessen. Sie machen die Sache sehr brav wir haben schon ein Concert gegeben mit der Frühlingsbotschaft von Gade als Hauptnummer. Der Verein zählt über 100 Mitglieder. Der zweite Verein ist die „Orpheus Musical Society“, ein Männerchor mit seinem eigenen Clubhaus; die Gesellschaft ist im Jahre 1853 begründet von den deutschen Musikern und Musikfreunden in Boston.
In der Entwicklung der Musik in dieser Stadt hat der Verein in vergangenen Jahren einen starken Einfluss gehabt; jetzt ist das Material etwas schwächer als damals und die letzten Dirigenten scheinen ihre Sache sehr gemüthlich gemacht zu haben, sodass alles was Feinheit und Reinklang anbelangt dem Club ziemlich fremd ist; ich bin aber überzeugt, dass der alte Wille immer noch da ist, und dass mit der Zeit und nach sorgfältiger Arbeit der Chor auf seine frühere Stellung wieder hinaufgebracht werden kann.
Der dritte Chorverein ist noch ein Jüngling, obwohl mein besonderer Liebling, ein Bach-Verein! Wir haben ihn gerade organizirt und müssen jetzt die Proben auf nächsten Herbst verschieben; dann hoffe ich ein Interesse für die Bach'schen Gesangwerke zu erwecken.
Ausser dem Vorhergehenden habe ich noch in ca. 20 Concerte am Clavier begleitet und manche Orgelconcerte veranstaltet; und noch eine ausserordentliche Arbeit - die Orgelpartie der symphonischen Dichtung „Also sprach Zarathustra“[1] mit dem Symphonie-Orchester gespielt. Ist das ein Stück! Glücklicher Weise ist es so theuer, das Ding auszuführen, dass das nur zweimal geschehen ist - so viele extra Bläser und Schläger werden in Anspruch genommen. Ich erlaube mir, sehr geehrter Herr Professor, Ihnen hiermit zu schicken die Programme meiner letzten Orgelconcerte. Das Bach-Programm habe ich zum ersten Mal am Conservatorium gespielt zur Ehre des J. S. Bach Geburts- Anniversär's; dasselbe habe ich eine Woche später im selben Lokale wiederholt, und noch zweimal in einer Kirche unten in der Stadt zu Gehör gebracht.
Bei dem anderen Concert, dessen Programm ich auch mitschicke, hatte ich die Ehre, des Herrn Hofkapellmeisters F-dur-Orgelconcert mit Orchester zum allerersten Mal in Boston vorzutragen. Das Conservatoriums-Orchester wirkte mit, sowohl wie die Herren Hornisten aus dem Symphonie- Orchester; Herr Chadwick war der Dirigent.
Wir haben zwei Auführungen gehabt, eine Nachmittags und die zweite am selben Abend, jedesmal vor einem grossen Publikum, das sich für Ihr Concert insbesondere sehr begeistert hat. Es ist ein wunderschönes Werk, und ich bin sehr dankbar, dass die Gelegenheit mir angeboten wurde, das Concert dem Publikum Boston's bekannt zu machen. Von meinem anderen Programm werden Sie wohl zu dem Urtheil kommen, dass ich für Bach mich besonders interessire. Bisher ist Bach dem allgemeinen Publikum nur bekannt durch die grösseren Orgelwerke, die Arie „Mein gläubiges Herz“[2], und die Matthäus-Passion. So weit, so gut; aber ich setzte mir die Arbeit, die Choral- Vorspiele, die unbekannten Fugen, und die endlose Zahl Kirchencantaten von so wunderbarer Schönheit auch bekannt zu machen durch Unterricht und Aufführung.
Von Herrn Parker wurde ein neues Oratorium in New York aufgeführt; er wird jedenfalls selber darüber schreiben. Herr Chadwick (der zwei Etagen über uns wohnt, im selben Hause) war gerade hier und lässt sich vielmals empfehlen; er bittet, dass ich seine Bewunderung über das Orgelconcert Ihnen ausspreche und lässt auch sagen, dass er hofft, eine Gelegenheit zu finden, wodurch er das Werk bei dem nächsten Musikfest zu Worcester aufführen kann, dessen Vereins-Dirigentenstellung er im Monat September antreten wird. Das Fest ist, ausser Cincinnati, das wichtigste in den ganzen Vereinigten Staaten.
Ich habe aber schon zu viel von mir selber geschrieben und muss diesen Brief zum Ende bringen, mit der Hoffnung, dass er Sie in bester Gesundheit und Kraft finden wird. In dankbarer Verehrung bin ich
Ihrer ergebenst
J. Wallace Goodrich.
Ich erlaube mir noch hiermit zu schicken den Clavier- Auszug meines „Ave Maria“. Es wird von Herrn Chadwick nächsten Donnerstag (den 5ten Mai) in Springfield aufgeführt, mit Chor von 250 und dem Boston Symphonie Orchestra. J.W.G.