Ludwig Bosse fragt bei Rheinberger über Interpretation von dessen Kompositionen nach


Braunschweig, d. 20.10.97

Hochgeehrter Herr Hof-Kapellmeister!

Es wird für Sie, Herr Professor, nichts Ungewöhnliches sein, wenn ein Unbekannter Ihnen aus der Ferne seine Verehrung, hervorgerufen durch den Eindruck Ihrer Kompositionen, ausspricht. Insbesondere war es die Beschäftigung mit Ihren Orgelsonaten, von denen mehrere in meinem Besitze sind, und welche Sie in meinen Augen als den bedeutendsten Orgelkomponisten der Neuzeit erscheinen liessen. Es gereichte mir zur besonderen Freude, in hiesigen Kirchenkonzerten zunächst einige sanfte Sätze aus Ihren Werken vorzutragen und mit denselben vielen Anklang zu finden, doch einen solchen Eindruck, welchen ich am vergangenen Sonnabend mit dem I. Satze („Agitato“) aus der D moll-Sonate op. 148 erzielte, habe ich nur wenig beobachtet. Ich liess den betreffenden Satz als Schlussnummer des Konzerts folgen und eine „mächtige Wirkung“ war die Meinung des Publikums (800 Personen) und der Presse.

Aber nicht nur das ist es, was mich an Sie schreiben lässt, sondern auch eine Bitte um Auskunft in Betreff des Vortrags Ihrer Orgelkompositionen, insbesondere der erwähnten.

Zunächst möchte ich um Auskunft bitten, ob - obwohl kein cresc. und decresc. angegeben ist, überhaupt auch in den mit vorliegenden Werken gänzlich fortgelassen zu sein scheint - nicht doch dem Vortragenden überlassen geblieben sind bezw. ihm zugestanden werden können. Die pp. Wiederholung des Seitenthemas (mit Bass F.. ..) auf Seite 6 (op. 148) hat z.B. die Frage in mir angeregt. Der Satz treibt unwillkürlich, bis zur Bezeichnung F. (auf derselben Seite) ein cresc. eintreten zu lassen, andernteils aber fragt man sich, ob nicht der Komponist durch den Gegensatz von pp. zum F. eine besondere Wirkung erzielen wollte. S. 10 liegt der Fall ähnlich vom F. bis FF.

Ferner bitte ich um Ihre Meinung, ob bei der ziemlich genauen Bezeichnung nicht doch noch zuweilen besondere zulässig sind - natürlich, ohne ins Kleinliche und Manirirte zu verfallen. So spielte ich z.B. in der Durchführung und S. 8 und oben S. 9, 2. System die Stücke des Seitenmotivs auf dem Oberwerk (ohne Rohrwerke) und die leidenschaftlichen Stellen mit den Triolen auf dem Hauptwerk. Eine ähnliche Stelle bildet die auf S. 6 (unterstes System) von op. 154 (ebenso S. 8 unten), welche sich, etwas schwächer (vielleicht mf) gespielt, auch gut machen müsste und Seine Abwechslung darböte.

Da mit die Beantwortung dieser Fragen für den Vortrag für die Zukunft von grossem Vorteil sein werden und zugleich mit die Beruhigung geben würden, immer nach Ihren Intentionen eine Komposition vorzutragen, so bitte ich Sie, hochzuverehrender Herr Professor, wenn es Ihre Zeit erlaubt, um einige auskunftgebende Zeilen. Zu dem obigen Agitato (op. 148) möchte ich zum Schlusse noch bemerken, dass der Satz meines Wissens die erste grössere Probe Ihrer Orgelkompositionen in hiesiger Stadt war, infolgedessen die Wirkung umso überraschender ausfiel.

Hoffentlich bietet sich noch öfter Gelegenheit, mit anderen Sätzen Ihrer Werke ähnlichen Erfolg zu haben. Indem ich nochmals Ihnen meine grosse Verehrung ausdrücken möchte, zeichne ich

Hochachtungsvoll
Ludwig Bosse.

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