Wien, den 14. Nov. 1896
Lieber Freund.
Wenn auch ein geraumer Zeitraum zwischen den beiderseitigen Briefen - sagen wir auch ein recht verpfuschter Regensommer liegt - meinerseits wenigstens ist der seelische Verkehr mit dem theuren Freunde nicht verkümmert, im Gegentheil in der glücklichen Rück- und Einwirkung Deiner mir im Herbste bekannt gewordenen Erscheinungen gewaltig gehoben worden.
Seit der mir nun gegönnten Musse habe ich nicht den Muth gefunden, mich neuerlich in ein technisches Studium einzulassen; die noch gebliebene Routine musste für den Fall des 4 händ. Spieles genügen. Da kamen die canonischen Stücke[1], die Romantische, opus 101, das ich lange im Notenkasten liegen hatte, und mit ihnen die täglich wachsende Begierde, ihren Schönheiten, und Schwierigkeiten mich zu assimiliren.
Nebstdem bin ich auch mit Bach in's Gewissen gegangen; vorläufig die 2 und 3 stimm. Inventionen, und freue mich, dass es wieder geht! -
Stücke, wie das Capriccio[2] 101 sind ja so prächtige, angenehme Lehrmeister, man freut sich bei jedem Wiedersspielen über neu entdeckte Schönheiten. Die romantische Sonate zu beschreiben, bin ich nicht „gescheidt“ genug, aber empfinde den grossen pathetischen Zug des ersten Satzes, die unwahrscheinliche Romantik des letzten zu bewundern, so glücklich bin ich !! Wenn man in den Sphären solcher Stimmungen sich auch wol fühlt, ist man wirklich - glücklich. Ich finde überhaupt, dass die Jahrgänge der opüsser 180 besonders schöner, tiefer Empfindungen entsprungen sind, ja je höher deren Zahl reicht, ihr Gehalt mehr nach Innen reicht. Was da Hanslick immer einseitig sagt, Brahms kann allein ein Adagio empfinden (wie im heutigen Feuilleton der N.F.P.[3]) so kennt er halt keines, oder findet es nicht der Mühe werth, ein Rheinberger' sches kennen zu lernen, der nebst den tiefsten Seelenstimmungen aus seinem eigenen vollen Schatze in jedem seiner Werke jugendfrische Gesänge bringt.
So jetzt hast Du's! -
Ist der 4 händige Clavierauszug der 17. Orgelsonate schon bald heraussen? Dass die op. 183 schon in 2 ter Auflage, deren ich diese Woche erhielt, erscheinen, freute mich sehr, aber die sind auch darnach. -
Dein bestes Wolsein hoffend, und voraussetzend, bringe ich über unseren Hausstand in Erwähnung, dass Gottlob Alle gesund sind, Mila, die sich Dir herzlich empfehlen lässt, sowie ihre Nachkommen. -
Nun, geliebter, geehrter Freund sei herzlichst gegrüsst, und um Nachrichten gebeten von Deinem treuen
Johann Mayer.
______________
[1] die canonischen Stücke, die Romantische, op. 101 = „Zwölf Charakterstücke in kanonischer Form“ für Pianoforte, op. 180, 4. Klaviersonate („Romantische“) in fis-moll, op. 184, „Drei Vortragsstudien“ für Pianoforte, op. 101.
[2] Capriccio 101 = op. 101 Nr. 1 Z. 21f: die Jahrgänge der opüsser 180 = Darunter befinden sich die Orgelsonate Nr. 17 in H-dur (Fantasie-Sonate“ op. 181, das „Tür- kische Liederspiei“ für Soli, Chor und Klavier „Vom goldenen Horn“ op. 182, die Messe in g-moll für 3 Frauenstimmen und Orgel („Sincere in memoriam“) op. 187, Johannes Brahms (+3.4.1897) zum Gedächtnis, und die 18. Orgelsonate in A-dur, op. 188.
[3] N.F.P. = Neue Freie Presse Z. 33: op. 183 = „Zwölf Vortragsstudien“ für Klavier, komp. 1895.