Johnie Mayer berichtet Stimmungsvolles aus seinem Leben in Wien


Wien, 25.1.1896.

Lieber Freund.

(1 Notenzeile)

Halt! Nun muss wieder weitergespielt werden!

Mochte die liebe Aufforderung, bei jetzt grösserer Musse, eine grössere Schreibthätigkeit zu entfalten so wenig Eindruck und Einsicht erzeigt haben, dass ein ganzer Winter mit nahezu dritthalb Monaten verstreichen durfte, um wieder den trägen Federstiel zu ergreifen, ist das auch in Ordnung? So würde ich mir allenfalls, wenn ich eingebildet wäre, Deinen Gedankengang vorstellen; aber so ernst hast Du die Sache wohl nicht gemeint.-

Genug, ich ergreife so gut als es mayerischerseits geht die Defensive, um mir Gelegenheit zu einem weiteren - zwar recht feierlichen - Zweikampf zu verschaffen. Gelt, so machen wirs? Solche Duelle, die um die echte Freundschaft,- gepflanzt auf gutem, lieben Boden vor über 30 Jahren - so friedlich verlaufen, bilden bei dieser social, und politisch düsteren, feindseligen Zeit einen hellen Grund; möge diese friedliche Stimmung, der wol auch die dunklen Stellen der Ereignisse - leider - nicht fehlten, fort und fort bestehen.

Ich bin da unbewusst in's Moderne verfallen, und huldige demselben wol, aber nur bedingt. Es wird darin manchmal des Guten zu viel gethan, dort aber wo Können und Wollen sich decken habe ich doch grossen Respect. So hat mich manches Bild von Uhde[1] tief ergriffen.

In der Musik finde ich das Moderne auf einem Standpunkt angelangt, wo wol der gesunde Gehörsinn, und sonstige Verstand bald genug haben wird; da ist ein Weitergehen nur mehr Verwegenheit. Was muss das für eine Ur-kraft (!) sein - ich meine die staubaufwirbelnde Gäa von Goldschmidt? Hier hatten wir vor Jahren schon seine 7 Todsünden miterlitten! Beim jüngsten Siegfried W/agner/ Concert huldigte ein enthusiastischer Philharmoniker R/ichard/ W/agner/ indem er sagte, Beethoven habe aus Musikanten Musiker, Wagner aber habe die Musiker erst zu Künstlern gemacht. Lassen wir das! -

Ich kann jetzt wieder meine liebe Mila[2] öfters zum Clavier schleppen. Verzeih den wol sehr plumpen Ausdruck; aber es ist Verismo, denn sie hat ihrer Meinung nach immer was Wichtigeres zu thun. Wenn wir aber beisammen sitzen, da ist's doch eine Zeit der Erdentrückung; sie spielt so ganz mit Herz und Gemüth, und Geist. Ich muss mir einen solchen Trumpf oft mit dem grössten Raffinement erbeuten. Sie näht, oder noch profaner - flickt im Nebenzimmer, ich suche mir etwas lang nicht Gehörtes heraus, hole mit den Augen was Besonderes hervor, und lasse es leise erklingen - dem kann sie dann nicht widerstehen, und sie ist für den Abend gefangen. So waren letzthin die „Ferientage“[3] - lange Zeit vergessen - mein Oberon's Zauberhorn. -

Lieber Freund, Du bist der musikalischen Welt noch das 4/m Arrangement[4] des g-moll Orgel Concert's schuldig, drückt Dich das nicht?

Wenn es erschienen, oder was noch, bitte, bitte um Nachricht! Mein Dank folgt wol etwas anticipando für die schöne, kräftige Hymne[5],  die recht in deutsche Herzen eindringen möge. Mit dem Jubiläum der deutschen Einheit hängt auch unsere Herzenseinheit zusammen. Am 4. Februar feiern wir unsere silberne Hochzeit. Ich sende Dir das Bildnis meiner jetzigen Braut, die Dich innigst grüsst, und sich für die freundliche Erinnerung bedanken lässt. Und so möge der gütige Gott unser liebes Beisammensein schützen und schirmen. Hiemit schliesse ich für heute!

In ewiger treuer Liebe und Freundschaft

Dein Johann Mayer.
Lieber Freund.

______________

[1] Fritz Uhde, eigentlich Friedrich Karl Hermann von Uhde (1848- 1911). In seinem Schaffen nehmen die religiösen Werke einen bedeutenden Platz ein.
[2] Z. 37: meine liebe Mila = Gattin Johann Mayers.
[3] S. 52/Z. 9: die „Ferientage“ = „Aus den Ferientagen“ Vier Stücke für Klavier zu 4 Händen, op. 72, komp. 1873
[4] Z. 12: 4/m Arrangement = Die 4-händige Bearbeitung des 2. Orgelkonzertes op. 177 war schon im selben Jahr wie die Partitur (1893) bei Rob. Forberg in Leipzig erschienen.
[5] Z. 16: schöne, kräftige Hymne = „Deutsche Hymne“ auf einen Text von P. Baehr („O deutsches Land, mein Vaterland“), WoO 15, komp. 8.9.1895.