Mailand, undatiert
Sehr geehrter Herr Professor!
Bin ich noch für Sie auf der Welt oder haben Sie mich ausgestrichen? Diesen Zweifel hege ich im Augenblick wo ich Ihnen schreibe, obgleich mich das wärmste Gefühl dazu leitet. Seit einigen Tagen muss ich unaufhörlich an die schöne Jahre in München zurückdenken, die noch viel schöner wären wenn ich damals sie mehr hätte ausnutzen verstanden. Ich war zu jung. Jetzt würde ich Ihren Unterricht besser verstehen, aber es ist vorbei. Inzwischen sind Prof. Abel und Prof. Hieber tod. Wie doch alles ändert! Darf ich vielleicht hoffen dass Sie mir einmal berichten würden wie es Ihnen geht, und ob Sie sich noch meiner erinnern? Ich meine es muss Ihnen angenehm sein zu sehen wie Ihre Schüler Sie noch ins Herz schliessen, nachdem die Zeit immer mehr vergeht. -
Jetzt lebe ich in Mailand: ich bin dort Direktor eines Chorvereins. Es ist quantitativ der grösste in Italien, wir haben auch ganz unglaubliche Resultate in einem Jahr erzielt, wenn man bedenkt was für Elemente zu Gebote stehen. Wie ist alles das in Italien schwerer! (Es ist seit München dass ich kein ordentlichen Orchesterklang mehr höre!) Graf Lurani singt auch im Bass, Terrabugio im Tenor; er leitet und leidet und weiset und meidet... Wir haben zwei Conzerte gegeben. Auch habe ich ein eigenes, von meinen Compositionen gegeben: das Programm war folgendes: Drei Chöre (in alter Madrigalen Art), eine Violinsonate, drei Gesänge (darunter ein Sonett von Dante), dann einen Trio (Klaviertrio). - Der Erfolg war ausserordentlich, solche Conzerte sind fast unbekannt, es gefiel den Mailändern und man nannte mich Componista dotto (gelehrt!)
Sehen Sie, so stehen die Sachen hier. Ich glaube aber, das Trio gefiele Ihnen auch, denn es ist ein bedeutender Schritt zurück zur Einfachheit und Formschönheit.
Im Oktober werde ich einige Wochen in München weilen. Ich wäre glücklich wenn ich Sie dort finden würde, ich möchte Sie doch sehen, meinen Trio möchte ich Ihnen auch zeigen, wenn Sie es erlauben.
Und nun, die letzte Neuigkeit: inzwischen habe ich mich verheiratet. So jung wie ich bin, und es sind bis jetzt schöne Tage gewesen. Sie ist eine Amerikanerin, Frl. Kilian, die dazumal in München auch im Conservatorium war. Seit der Zeit sind wir einander treu geblieben, nun geht es in derselben Art weiter.
Entschuldigen Sie mir mein Getratsch und haben Sie lieb Ihren immer dankbaren Schüler
E. Wolf-Ferrari.
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