Leipzig, Hotel Hauffe, 3.2.93.
Hochverehrter Freund!
Eine längere Abwesenheit von Leipzig hat mich bis jetzt verhindert, Ihren liebenswürdigen Brief mit der werthvollen Sendung zu beantworten.
Ich danke recht herzlich für die Messe. Das erste, flüchtige Durchlesen derselben zeigte mir gleich all' die hohen Vorzüge, die Ihr Schaffen stets charakterisiren:
Tiefer Ernst, noble Sprache, reinste classische Gesinnung und wahre Religiosität. Ich darf Ihnen wohl zu diesem Werk gratuliren, und wünschte nur, es wäre mir möglich, es einmal zu hören. Nach der Meisterschaft zu urtheilen, mit welcher der Chorsatz geschrieben, kann man schon erwarten und sicher sein, dass alles herrlich klingt.
Gott gebe und bewahre Ihnen die Kraft und die Lust, immer weiter zu schaffen! Nur darin finden Sie Rettung. Ihr Brief verräth noch einen so tiefen Schmerz, dass der desolate Ausdruck desselben mich sehr bewegte. Aber ich begreife nur zu gut, dass hier keine menschliche Hand, keine menschliche Stimme helfen kann. Die Zeit, die unbarmherzige Zeit allein, die Alles zerstöret, die allein kann etwas Linderung bringen. Sie wird Ihnen wenigstens den Stachel der Pein abnehmen, wenn auch das Verlangen und die Sehnsucht nach der Edlen, die Sie verloren, ganz und unversehrt in Ihrer Seele zurück bleibt.
Meine Schwägerin, die jetzt in Paris, und der ich Ihren Brief zukommen liess, wollte Ihnen schreiben; ich hoffe, sie hat's gethan.
Leben Sie wohl und empfangen Sie den aufrichtigen Ausdruck der Sympathie des
Sie hochverehrenden
Th. Gouvy
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