Köln, 11. Febr. 1885
Lieber Freund!
[ ] Ich habe, seit ich in Köln bin, einen Schüler, der mir eigentlich wie ein Sohn lieb ist; er hat ausserordentlich viel Talent und hat sich zu meiner grossen Freude gut entwickelt; er ist jetzt 20 Jahre, hat in meinen Klassen das Conservatorium absolvirt und das Stipendium der Mozartstiftung in Frankfurt erhalten. In den guten musikalischen Traditionen erzogen, geht sein Wunsch dahin, sich jetzt unter Deiner Leitung weiter auszubilden, und meine Bitte ist die, ihn gut aufzunehmen und ihn weiterzubringen, wie ich überzeugt bin, dass Du es im Stande bist zu thun. Der Jünglich heisst: August von Othegraven; sein Wunsch nun geht dahin, nicht das Conservatorium zu besuchen, sondern Privatstunden zu nehmen. Hauptsächlich componirt er und will später Kapellmeistern; ich vermuthe, dass er sich der Oper zuwenden wird. Er spielt tüchtig Klavier, nur fehlt ihm zum Solisten die Freude am Glänzen, auch die Freude am technischen üben, die ich auch nie besessen. Als Mensch ist er sehr solide und liebenswürdig.
Würdest Du die Güte haben, mir mit einem Wort zu melden, ob Du Dich in der angedeuteten Weise für ihn interessiren kannst und magst, ob er vielleicht den Sommer in Kreuth [1] verleben kann, oder ob Du vorziehst, dass er erst zum nächsten Winter nach München kommt. Schreibe mir auch, ob Du ihn auch als Klavierschüler übernehmen möchtest, sonst wirst Du ihn empfehlen an einen musikalischen, nicht virtuosen Lehrer. Ich hoffe, Du wirst zusagen und die Führung des jungen Freundes übernehmen. […] Er muss sich zum Militär stellen und könnte dadurch bis im Mai hier zurückgehalten werden, möchte auch diesen Winter noch bei mir arbeiten. Seine sociale Stellung, vielmehr die seiner Eltern, ist eine bescheidene, sein Vater früher Präsident des Männergesang-Vereins, besitzt kein Vermögen.
Hoffend, bald eine freundliche Zusage zu erhalten, bleibe ich mit herzlichem Gruss von Haus zu Haus
Dein
S. de Lange.
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[1] Kreuth = Wildbad Kreuth, bevorzugter Sommeraufenthalt des Ehepaares Rheinberger.