Köln, 9.2.1885
Verehrte Frau.
Mir däuchte als hätte ich Ihnen auf Ihren letzten längeren Brief einige dankende Zeilen geschickt, vielleicht habe ich es aber nur vorgehabt. In meinem Kopf herrscht ein jammervolles Durcheinander. Zu Vielerlei und doch so wenig, so Entferntes macht sich nebeneinander breit; und ich weiss nie, ob es Montag oder Dienstag ist; über diese ganze Periode meines Daseins möchte ich am Liebsten ausrufen: "Schwamm drüber!" hätte ich nur einen so mächtigen Schwamm! Ich gestehe Ihnen, ich war neidisch, als ich in Ihrem lieben Brief las von den Concerten Ihres Gatten und von der Gegenwart unseres Franz I. Keinen Ton höre ich, keine Note schreibe ich, von Zeit zu Zeit kömmt ein Musiker und sieht nach, ob ich noch da bin, und wenn er diese Gewissheit erlangt hat, geht er zufrieden seinem Geschäfte nach.
Könnte ich die Dinge mit Ihren gläubigen Augen ansehen, müsste ich mich ja freuen über jeden neuen elenden Tag, der mir zu Theil wird, aber wie weit bin ich davon entfernt. Ich bin eigentlich erbittert, indignirt, dass uns armem hülflosen Menschenvolk solche Leiden auferlegt sind, für die uns bei unserem schwachen Verstande jeder vernünftige Grund mangelt. Denn die Nothwendigkeit ist kein Grund, sie ist ein Factum. Ich habe die volle Überzeugung, dass wenn Brutus den Cäsar nicht ermordet hätte, ich jetzt nicht auf meinem Straf-Lehnstuhl Wochen und Monate absässe. Ich will auch gern zugestehen, dass hinter den Einrichtungen des Kosmos alles mögliche Gute, Weise, Schöne verborgen sein kann, nur schade, dass wir zu dumm sind, eine Einsicht gewinnen zu können. Die allergrössten Geister wussten Vorsehung und Freiheit, Thatkraft und Macht des Gesetzes nicht zu vereinigen. Ich bin nun ein sehr kleiner Geist und habe wenig Kraft, mich über meine Leiden zu ergeben. Ich lasse mir's gefallen, setze mich hin und sage: „Da! nun macht, was Ihr wollt." Das war oder ist ja eine Art von "Confession"; allzu wörtlich müssen Sie es aber doch nicht nehmen. Wir Künstler, wir glauben wenigstens an die Existenz des Schönen und suchen etwas davon in einer oder der andern Weise hinzustellen, und dass wir was wollen und theilweise können, ist das Beste, das uns zu Theil geworden. Wenn nun Einer, wie z.B. R[heinberger], obendrein eine Frau hat, ausgeschmückt mit allem, was erheben und beglücken kann, so habe ich nichts dagegen, wenn er die sämmtlichen Psalmen Davids in Musik setzt. Nun ade, stets Ihr Getreuer
Ferdinand Hiller.
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