München 13.12.1884
Mein lieber David! 13.12.1884
Dein letzter Brief erinnert mich daran, dass ich Dir schon ewig lang nicht mehr geschrieben habe; erst war ich fast ein halb Jahr gar nicht im Stande zu schreiben, und nun, wo es wieder so ziemlich geht, habe ich eben mehr Noten als Buchstaben geschrieben. Die Hand ist nun in Genesung und mit vier Narben gezeichnet, zwei auf der Aussen-, zwei auf der Innenfläche. Zum Schreiben brauche ich eine eigene Haltung der Hand, die natürlich in Folge der vieljährigen Krankheit sehr kraftlos ist. Besonders der Zeigefinger muss noch beim Klavierspielen pausiren. Aber ich muss selbst mit solchen Halbheiten zufrieden sein. Doktor Nussbaum zeigt sich in der ganzen Angelegenheit seinen Kollegen überlegen. Hoffentlich bleibt es nun definitiv bei dieser Besserung. Die Nachrichten über den Regierungswechsel in Vaduz[1] haben uns sehr interessirt - mögen dieselben nur auch immer so günstig lauten! Von Peter hatten wir vor ein paar Wochen Nachricht; er schien mit seiner Gesundheit nicht ganz zufrieden. Nun man muss auch nicht ängstlich sein; ich huste auch seit meiner Brustfellentzündung 1866 - und zwar in der Frühe sehr heftig, mache mir aber längst nichts mehr daraus. […]
Prof. v. Schafhäutl hält trotz seiner 82 Jahre gesund und frisch seine Vorlesungen, nachdem er jeden Morgen schon um 1/2 6 Uhr der hl. Messe im Herzogspital anwohnt. Er hat sich ein freundlich-chronisches Lachen angewöhnt, selbst bei Vernehmung der traurigsten Nachrichten. Ein beneidenswerthes Alter. Sein Zimmer ist beständig auf 20-22° Reaumur geheizt, weil er behauptet, in München sei noch Niemand "an der Hitz" gestorben. […]
Nun wünschen wir Euch fröhliche Weihnachten, Dir einen glücklichen Davidstag [2] und guten Neujahrsanfang! [...] Tausend Grüsse von Eurem Bruder
Josef Rheinberger.
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[1] Regierungswechsel in Vaduz = Am 23. September 1884 hatte Carl von In der Maur die Nachfolge Carl Haus von Hausens als fürstlicher Landesverweser angetreten.
[2] Davidstag = 30. Dezember