Rheinberger über den Sinn von Namens- und Geburtstag, dass sein Taufname eigentlich Gabriel sei, das tolle Maskengetriebe auf den Strassen (Fasnacht), die Tatsache dass Henriette unmusikalisch sei etc...


Sonnenschein

Theuerste Freundin!

Sie fragen, ob bei uns Namens- oder Geburtstag gefeiert werde. Eigentlich katholische Sitte ist Ersteres; in meinem elterlichen Hause wurde nur der Namenstag der Eltern, der der Kinder aber nicht gefeiert. Miez feierte Beides; ich seit meinem Alleinsein weder das Eine noch das Andere. Warum sollte ich mich auch freuen, wieder ein Jahr älter zu sein? - Mein eigentlicher Taufnahme ist - Gabriel; da ich aber am Josefstage (19. März) getauft wurde, so fügte der taufende Pfarrer noch den Namen Josef bei. Dieser blieb nun und der andere verschwand nach und nach, fast ohne das es Jemand bemerkte. - Der Name Henriette wollte Ihnen also erst nicht gefallen? Ich finde ihn schön und sympathisch - abgesehen davon, dass er meinem Herzen eingegraben ist. Nur die Abkürzung "Jette" ist subrettenhaft und in München bei den Juden sehr beliebt; dagegen lobe ich mir Völderndorff's "Jetteie". Ohne zu ahnen, welches Interesse dieser Name noch für mich gewInnen würde, haben wir vor zwei Jahren öfter von Ihnen gesprochen. Auf dem Lande ist man unerbittlich in Beibehaltung der Jugendnamen; ich hiess der "Peppi" - und Miez lachte hellauf, als sie bei einem Besuche in Vaduz in der Kirche ein Solo gesungen hatte, beim Nachhausegehen zwei alte Bauern belauschte: "Wer hat denn heut' so schön gesungen?" "Dem Peppi seine Frau!"

Sie schreiben: "... nur kann es ja nicht anders sein, als dass dann und wann sich die Angst in das Herz einschleicht: wenn ich nun mal usw. usw.," ich brauche es ja nicht fertig zu schreiben. Ich habe Ihnen schon vor Wochen geschrieben, dass es eine eigene Fügung sei, dass was dem Einen der glücklichste Tag, dem Andern derselbe zum Gegentheil wird, - das ist nicht zu ändern. Wie oft schon musste ich daran denken! Für Sie ist es ja so einfach, so selbstverständlich; Sie brauchen sich darum keine Sorge zu machen. Was mich anbetrifft, so können Sie sich natürlich keinen Begriff davon machen, wie mir zu Muthe sein wird: Sie werden dann ja auch glücklicherweise gar nicht Zeit haben, daran zu denken. Ich denke mir, wenn ich z. B. eine Tochter ungefähr Ihres Alters hätte, die mir durch den Tod entrissen würde, so müsste ich das eben hinnehmen, wie ich schon Manches hinnehmen musste. In dem ersten Verschen, das Sie mir schrieben; heisst es: ... "bleibt die Erinnerung" - die wird freilich nicht auslöschen, die Erinnerung an meine edle Freundin, wie sie mir zuerst erschienen. Die nunmehrige "gnädige Frau" werde ich dann doch nicht mehr sehen - fern sind Sie mir ja ohnedem schon (im günstigsten Falle durch elf Monate im Jahr); allerdings fällt auch der briefliche Verkehr: ein Opfer, das ich bringen muss. Ist es nöthig, das Alles schon zu besprechen? Ihrem Briefe nach nicht, also lassen wir's, es kommt immerhin noch früh genug! -

Ohnedem ist heut Faschingsonntag, wo man heiter sein soll, und mir fällt heut gar nichts Lustiges ein! Genug für heute.

 

18.2.

Faschingsmontag, früh acht Uhr; arges Schneewetter; Dunkelheit, sodass ich bei Lampenlicht schreibe. Doch ist es gemüthlich, wenn ich denke, dass meine hohe Gebieterin in ihrem Feengemach jetzt meinen Brief voll Sonnenschein und Regenschauer liest, und hie und da ein wenig ungehalten an den treuen Freund denkt.

Mit Recht machten Sie sich über meine Fantasie lustig, die von Ihrem "göttergleichen Dasein" fabelte, während Sie fiebernd zu Bette lagen - auch Miez spottete oft über meine Fantasie, während sie mir darin noch "über" war! Aber ein Poet oder Musikant soll Fantasie haben, sonst soll ihn der Teufel holen; wie prosaisch wäre das Leben ohne die hoffende, versöhnende, veredelnde Fantasie - ohne diese Trösterin der Künstler, die über so Vieles hinwegtäuschen muss! Wie schön vermittelt sie die Kluft, die so oft zwischen Herz und Kopf entsteht; bei mir wenigstens ist dies der Fall, nur dass leider Ersteres immer Recht behält; wie oft waren Sie schon das Objekt dieses Kampfes! Ich sehe Sie, überlegen lächelnd, über meine Phantastereien; das thut Nichts, denn ich habe schon oft über meine Thorheit gelacht und zwar in jenen Momenten, wo der Kopf die Oberhand behielt. Da ist nichts mehr zu ändern, denn unter uns gesagt, die Thorheiten hat man unter all seinen Gedankenkindern am liebsten. -

Ich habe mir ein Cigarrenkistchen austapeziert und da liegen nun Ihre sämtlichen Briefe, diese lieben Boten einer unvergesslichen Zeit, darin: sonnige, schattenlose, schattige, solche mit trauerumränderten Stellen - denn auch diese sind mir theuer - und bilden mir einen Schatz der verschiedensten Stimmungen und Erinnerungen. Sie wissen kaum, wie viel gute und herzliche Gedanken Sie da niedergelegt haben; mögen noch viele dergleichen nachkommen! Wie oft schon habe ich es beklagt, dass die gütige Vorsehung mir nicht seinerzeit nebst den anderen Gaben auch eine kleine Portion Leichtsinn mit in die Wiege gelegt hat. Schon als Kind nahm ich Alles so schwer; und als ich in reiferen Jahren mir dessen bewusst wurde, hatte ich doch nicht die Kraft, mich darin zu ändern. Wohl dachte und hoffte ich, dass das Leben mit seinen rauhen Erfahrungen hierin Wandel schaffen würde - aber es kam nicht dazu, und so wurde ich älter und älter, ohne mich nach dieser Seite zu "vervollkommnen" - jetzt freilich ist es zu spät. Diese Gedanken kamen mir, als eben jetzt ein früherer Schüler und hochbegabter Künstler (leider sehr modern angehaucht) bei mir in ernster Angelegenheit zur Besprechung erschien. Wie gut haben es doch Leute, die sich nur zu schütteln brauchen, dadurch alles Unangenehme sich entledigen und dann wieder obenanstehen! Ich hörte mit Bewunderung und einer Mischung von Abscheu zu und kam mir recht altmodisch vor, diesem modernen "Lebensvirtuosen" gegenüber. Mit demselben Manne war ich vor einigen Jahren auf dem Verdeck eines Starnbergerseedampfers im Gespräch, als eine gereizt zornige Kinderstimme rief: "Du, Ludwig, komm doch einmal herunter, ich mag nicht länger warten" - es war sein liebes Söhnchen - "er nennt mich halt immer so" und fort war er, vor ich ihm und seiner Frau zu der gelungenen Kindererziehung gratulieren konnte. Man nennt dies amerikanisches Kindererziehungssystem; d. h. die lieben Kinder dürfen thun und lassen, was sie wollen; sie dürfen nicht getadelt, viel weniger gestraft werden, d. h. sich selbst entwickeln; von Religion ist nicht die Rede, höchstens etwas "Ethik" als Surrogat dafür; allen Leidenschaften ist nachzusehen usw. usw. Das ist nicht übertrieben, sondern buchstäblich wahr. Nach diesem "System" wurde der junge Mann erzogen, der sich (über meinem Schlafzimmer wohnend) erschoss; er hatte mit 23 Jahren das Leben schon ausgekostet und machte drum ein Ende. Solche "Ethiker" gibt's jetzt schon massenhaft, ja es gibt schon eine grosse "deutsche ethische Gesellschaft", der auch Damen angehören; eine derselben, die ich von München aus kenne, war im Herbst auch in Kreuth, doch ohne dort Vorlesungen zu halten, wodurch wir einer grossen Gefahr entgingen. (Die Eisenbahn von Gmund nach Tegernsee ist nun im Bau, wird aber in diesem Sommer noch nicht fertig, sondern erst im nächsten, wenigstens wurde ich so berichtet.) Pläne bis dahin mache ich aber nicht. -

Wenn Sie, meine verehrteste Freundin, es sagen, dass Sie unmusikalisch sind, so muss ich es ja glauben; Sie müssen mir aber (gelegentlich) erklären, woran Sie erkennen, dass Sie kein musikalisches Gehör haben; das interessiert mich sehr. Sonderbar, dass ich bisher immer nur mit musikalischen Damen und in Musikangelegenheiten zu korrespondieren hatte, (und zwar sehr häufig); alle interessierten sich nur für den Musiker Rheinberger - für den Menschen Rheinberger nur Eine; ist das beschämend oder ehrend für mich? - Was ist da Ihr Urtheil? -

Ich muss auf das Seite 2 (oben) von Ihnen Erwähnte nochmal zurückkommen - nämlich, dass Sie Angst haben werden, mir seinerzeit mitzutheilen wenn Sie sich verloben, weil Sie wissen, wie nah mir das gehen würde; und Sie schliessen: "Wie kann ich darüber glücklich sein, wenn er es nicht mit mir ist"! Sie setzen mich da in schwere Verlegenheit, dies zu beantworten. Dass ich Ihnen das grösste Glück, das dem Menschen möglich ist, wünsche, das wissen Sie; aber dass ich mich über ein Ereigniss freuen soll, das uns vollständig trennt, können Sie mir doch nicht zumuthen. Es ist ja für Sie nicht so schwer, darüber weg zu kommen, denn die Neuheit der Situation, worin Sie sich befinden werden, absorbiert dann all Ihr Interesse, und das muss so sein. Alle Freundschaften, selbst die Eltern treten da zurück - und wenn Sie auf der einen Seite Freunde verlieren, so gewinnen Sie auf der anderen ja viel mehr. Wenn ich sage: Freunde verlieren, so meine ich natürlich nicht, dass dieselben sich in Feinde verwandeln, sondern, dass sie ihre Bedeutung verlieren werden; dagegen ist Nichts zu machen, es ist der Lauf der Natur. Für heute will ich mich hierüber nicht mehr verbreiten, so viel ich auch darüber nachzudenken habe und haben werde! -

 

19.2. Abends.

Wenn man so einen Blick auf die Strasse wirft, und das tolle Maskengetriebe sieht, so wird einem ganz eigen zu Muth. Wenn's harmlose Lustigkeit ist, wird kein Vernünftiger was dagegen sagen und höchstens denken: ich hatte ja auch Stunden und Tage der "Narrheit". Aber im Ganzen herrscht Rohheit und Pöbelhaftigkeit vor - wenigstens hier vor meinen Fenstern. Und somit sei mir mein Lämpchen gegrüsst, welches mich zu dem gewohnten trauten Plauderstündchen einlädt - so lange es das Schicksal erlaubt. -

Sie haben, meine theure Freundin, mich ersucht, Ihnen ein Buch zu nennen, durch welches Sie den Katholizismus näher kennen lernen könnten. Dieser Wunsch macht Ihrer unpartheiischen Wissbegierde umsomehr Ehre, als Sie damit eine Lücke Ihres Wissens ausfüllen würden; Sie werden mir es nicht zürnen, wenn ich erwähne, dass in diesem Punkte (nach meiner Erfahrung) bei den Protestanten eine merkwürdige Unbekanntschaft herrscht. Ich kam z. B. einmal mit einem Berliner Kollegen, der sonst höchst gebildet ist, in eine katholische Kirche, wo eben Gottesdienst war. Nach demselben frug er mich, warum bei einer gewissen Stelle der Messe das Volk sich erhob und bekreuzte. Ich sagte: "Weil das Evangelium gelesen wurde und durch Erhebung und Bekreuzung der Glaube an dasselbe symbolisch bestäthigt wird." "Ja, habt Ihr denn auch das Evangelium?" "Natürlich, und wenn Sie ein wenig nachdenken wollen, so werden Sie finden, dass Ihr es sogar von uns bekommen habt." Das ist nur ein Beispiel von Vielen. Von den gebildeten Katholiken verlangt man (mit Recht), dass sie auch in der protestantischen Literatur bewandert sind - das ist ja selbstverständlich. Wie ist's umgekehrt? Unter meinen vielen, vielen Bekannten und Freunden Ihres Bekenntnisses fand ich nur Völderndorff und einen (jetzt verstorbenen) Breslauer Professor, die mit unserer Literatur vertraut waren; ich könnte da merkwürdige Dinge erzählen. Den berühmten Literaturhistoriker Professor Bernays (Verfasser des "Jungen Goethe") frug ich um sein Urtheil über Weber's Epos "Dreizehnlinden" - "Das kenn ich nicht" - "Es ist ja schon in 25 Auflagen erschienen" - "Bedaure, ich habe nicht einmal den Namen noch gehört". -

Ihr Wunsch bringt mich nun in eine gewisse Verlegenheit; Sie wissen, dass ich mir vorgenommen habe, auch nur den leisesten Schein zu vermeiden, dass ich durch Empfehlung von katholischen Büchern Propaganda bei Ihnen machen wollte - ich hatte das auch brieflich an Ihre verehrte Frau Mutter erwähnt - und so sind mir nun dies falls die Hände gebunden. Oder finden Sie mich zu gewissenhaft? Dass ich Ihnen seinerzeit die italienische Reise meiner Frau gab, zählt ja nicht hierher.

Wie glücklich ist man doch, wenn man harmonisch in einer Familie vereint, leben kann. Das sehe ich so recht ein, bei so einem einsamen, langweiligen five-o-clock-tea des Unterzeichneten - und ich wüsste nicht, wie dem abzuhelfen - mache ich's halt durch, so lange es sein muss. Meine so sehr verehrte Freundin nennt sich mit einer gewissen Vorliebe und Selbsterkenntniss hie und da "Trotzkopf", und ich bin erschrocken, als ich las: ich hätte Sie so genannt. Habe ich das wirklich? nun, etwas Wahres ist schon daran, aber gewiss nur in gutem Sinn, sonst wäre das Wort nicht meiner Feder entflossen! Hell auflachen musste ich, als Sie mich Ihren "Beichtiger" nannten; ja, wenn ich das wäre! Da müssten Sie alle Tage Ihre Missethaten bekennen und bereuen, bis Sie die Vollkommenheit selbst wären - eine ganze Kategorie von Büchern würde ich Ihnen verbieten, und Ihnen dafür andere anempfehlen. Aber ich traue Ihrer Bussfertigkeit noch nicht recht - der Schalk ist dem Trotzkopf doch zu nahe verwandt. Und wenn man's genau nimmt, habe ich Ihnen schon viel mehr gebeichtet, als umgekehrt. Es müssen doch gegen 300 enggeschriebene Seiten sein, die Sie von mir erhalten haben - dagegen ich von Ihnen etwa 250, weit geschrieben - wenn meine Elaborate Ihnen aber halb so viel Freude machen, als Ihre mir, so will ich gerne zufrieden sein? Scherz bei Seite - heute ist Dienstag - auf Freitag erhoffe ich einen Brief, nach dem ich mich heute schon sehne - möge er nur Gutes bringen! - Sie glauben nicht, wie Sie mich oft (ohne daran zu denken) mit ein paar Worten rühren. Z. B. wie Sie wegen dem verlangten Buche schreiben. .. "und ich bitte auch nicht darum, dass ich dann etwa besser streiten könnte - ach! nein, gewiss nicht". Gewiss streiten wir nicht, wir sind im Grunde Beide nicht dazu gemacht; wir sprechen uns freimüthig aus und finden hoffentlich in Zukunft mehr Punkte der Übereinstimmung in den ernstesten Fragen. Wenn ich manchmal ein scharfes Wort gebrauche, so reut es mich bis zu Ihrem nächsten Briefe; es ist einmal eine grosse Schwäche von mir, zu glauben, Ihnen mit diesem oder jenem Wort wehe gethan zu haben und mich darüber zu beunruhigen, - das datiert bei mir seit dem unseligen 3. November. Immer nehme ich mir vor, darin vorsichtiger zu sein und verfalle doch wieder in denselben Fehler; aber zu meinem Troste kann ich mir sagen, dass dies nicht in Fragen der Fall ist, die speziell mich, sondern in solchen, die speziell meine edle hohe Gebieterin angehen, und diese wird darin finden, dass es nur die innerste, selbstloseste Absicht ist, wenn ich als "treuer Warner", nicht etwa als der intelligentere Mensch, wohl aber als der weiterfahrenere Freund zu meiner verehrten, theuren Freundin spreche.

 

20.2.

Wenn man sich für Jemanden interessiert, so liegt es sehr nahe, dass man viel über ihn nachdenkt; und wenn man im Besitze lieber Briefe ist, so erleichtern dieselben die Lösung der schwierigsten Probleme. So gesundheitsstärkend und angenehm das Radeln auch ist, so soll es nicht - leidenschaftlich betrieben werden; dass dabei von "Ethik und Religion der Griechen" die Rede ist, mag als wunderbar bezeichnet werden. Jedenfalls ist das Radeln nicht ungefährlich, d. h. ich meine natürlich nur für die Knochen, nicht etwa Literatur oder Anderes. Sie sehen ich kann "halt" das Zwischendenzeilenlesen nicht ganz lassen. -

Solche Aschermittwochgedanken gehen mir durch den Kopf, - dazu die barbarische Kälte, gegen die mich der dicke Pelz kaum schützt - ist's da ein Wunder, wenn ich mit' Sehnen an einen goldenen Sommermorgen in Kreuth denke? Das erscheint mir dann fast wie ein fernes, unerreichbares Eden. Und hinter diesem wieder der unerbittliche, eiserne Vorhang, das Traumland von der rauhen Wirklichkeit trennend und mich in meine Einsamkeit zurückweisend. Selbst wenn ich dies Alles überstehen sollte, so kommt mir jetzt, wenn ich mein ganzes Leben zurückschauend überdenke, dasselbe oft zwecklos vor. In unserer Liturgie, die voll Symbolik ist, heisst es heute: "memento, homo, quia pulvis, et in pulverem reverteris."[1] Meine theure Freundin kann das recht wohl übersetzen, wie sie sich den Spruch "Somnia" usw. auch übersetzt hat; wenn nicht, so ist der Schaden nicht gross: es ist eben der "Aschermittwochspruch", der wohl mich, aber nicht sie (meint wohl "Sie") angeht. -

Ich sehe wieder mit Verwunderung die achte Seite dieses Briefes! und ich hatte doch grössere Kürze angekündigt! Da hat es mit dem Briefwechsel der "Verschlossenen" noch gute Wege, besonders, wenn mein lieber, freundlicher Berliner Korrespondent wie bisher aushält! Haben Sie Immermann's Münchhausen noch nicht vorgenommen? es ist schon werth, dass Sie's lesen; ich kann es Ihnen auch nach Kreuth mitbringen. Ich habe sehr viel Bücher - Miez war unersättlich hierin. Nach ihrem Tod habe ich gewiss circa 200 Bände als Andenken an sie verschenkt; ebenso weiss ich bald nicht mehr wohin mit meinen Musikalien, deren ich die schwere Menge geschenkt bekomme; bin ich ja hierin ein beliebter Vertrauensmann für halb Europa und Amerika - nur die "modernen" unter ihnen hassen mich wie den Teufel! (Hier höre ich meinen Korrespondenten murmeln: "geschieht dem Philister schon recht!") Ja, aber unter den letzteren befindet sich eine Anzahl undankbarer Schüler, bei denen Undankbarkeit als Charakterstärke gilt; das sind die "modernsten", die schon an den "Übermenschen" angränzen. Sie glauben wohl, ich scherze, allein es ist bitterer Ernst, was ich hier schreibe!

Und wenn man dann zusieht, wie im Namen der Humanität und einer falschen Bildung die Menge systematisch entsittlicht und der Religionslosigkeit entgegengeführt wird, so möchte Einem schaudern vor den Dingen, die ich zwar nicht mehr erleben werde (wohl aber Sie!) die aber kommen müssen! -

Jetzt ist's Zeit zu schliessen - nochmals innigen Dank für alles Gute und Schöne, das Sie mir schrieben - Manches wird mir unvergesslich sein, wie die verehrte Schreiberin selber!

Mit herzlichstem Grusse wie immer Ihr treuer

Jos. Rheinberger

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[1] «memento, homo, quia pulvis...» = «Gedenke, Mensch, dass du Staub bist und zum Staube zurückkehrst.» (Aus der katholischen Liturgie des Aschermittwochs.)