Rheinberger rügt Henriettes Gefühl von "Einsamkeit" da sie sich seiner Meinung nach in einer Position befinde von welcher viele Menschen nur träumen könnten und erzählt, wie es in seiner Heimat (Liechtenstein) ist.


München, den 21. 1. 01

Liebe, verehrte Freundin!

Einiges was Ihr letztes Schreiben betraf, habe ich in dem Briefe, den Sie wohl heute früh erhalten haben, schon beantwortet, - wenn auch flüchtig. An dem Grundsatz festhaltend auf Alles einzugehen, was Sie brieflich anregen, (selbst wenn es mir schwer fällt) werde ich das Übrige jetzt nachtragen. Oder ist es nicht so von Ihnen gemeint? Sie fragen, ob ich mich durch die Bezeichnung "Philister" getroffen fühlen würde? Ja und nein - insofern haben beide, P. u. H. H. recht. Es hängt ganz davon ab, wer mich beurtheilt; den Modernen gegenüber, deren Evangelium in den zwei Grundsätzen: "Alles ist erlaubt" und "Neu um jeden Preis" gipfelt, rechne ich es mir zur Ehre an, Philister genannt zu werden. Kein vernünftiger Mensch aber, der mich kennt, wird mir idealen Sinn absprechen, oder behaupten, ich halte diejenigen für Narren, welche Höheres anstreben. Jene hingegen, die unter dem Worte "Höheres" Schrankenlosigkeit und Gesetzlosigkeit (und noch Schlimmeres) in Kunst, Literatur, Wissenschaft und Sitte anstreben, halten das für "Genialität". Gestern las ich zufällig in einem "modernen" Journale: Riehl ist der Schriftsteller für Philister und alte Tanten - und warum? Weil er sittlich rein ist. Die Verkehrung der Begriffe macht überhaupt in neuerer Zeit so rapide Fortschritte, dass man mit Besorgniss in die Zukunft blicken muss, wenn man nicht, wie so Manche, absichtlich blind ist. -

In Betreff Joachim's haben Sie Recht: er ist in gutem Sinn ersten Ranges; ein Quartett von Beethoven von ihm und seinen Genossen zu hören, gehört zum Schönsten, was die Kunst bieten kann. Die "Neudeutschen" rechnen ihn aber zu den "Philistern", ohne dass ihm das sehr weh zu thun scheint. -

 

22. 1.

Meine theure Freundin,

darf ich noch einmal auf jene Briefstelle zurückkommen: "wenn ich da um mich blicke und die Anderen alle zu zweien sehe... dann komme ich mir so grenzenlos verlassen vor, so einsam, dass mich das Verlangen packt, auch nicht immer nur für Alle da zu sein..." Das sagen Sie zu einer Zeit, wo Sie mitten in einer zahlreichen, glücklichen Familie leben, die Sie auf den Händen trägt, all Ihren Wünschen nachkommt, umgeben von allem Komfort und Oberfluss; interessieren sich für Kunst und Kunstgeschichte, besuchen Theater, Bälle, Konzerte, Gesellschaften, Vorlesungen, betreiben Literatur, Radfahren, unterrichten Französisch, lesen Englisch, lernen photographieren, reiten, nach Frankreich reisen, erfreuen sich dabei der blühendsten Gesundheit und Jugend, und der Sympathie Aller, mit denen Sie verkehren, führen das Leben eines Prinzesschens (nur mit viel grösserer Unabhängigkeit) ... und finden noch Zeit, unzufrieden und grenzenlos verlassen zu sein! Verzeihen Sie: ist das nicht eigentlich undankbar gegen die Vorsehung, die unter Tausend kaum Einem so Viel gewährt? Diese Unzufriedenheit ist die Frucht wahlloser, pessimistischer, moderner Lektüre. Wohl weiss ich, dass Sie mir zürnen, dies Alles gesagt zu haben - wohl weiss ich, dass es vergebens gesagt ist - aber: "Klar und wahr!" Vergleichen Sie mit Obigem was z. B. ich habe: gar nichts - nicht einmal Gesundheit! ein Brief von Jemand, den ich Ihnen nicht zu nennen brauche - ein einfacher, lieber Brief muss mir all dies ersetzen. - Das setzt allerdings viel - Freundschaft voraus! -

Sodann fahren Sie fort: "... und was dann nun eigentlich? und wie in aller Welt komme ich dazu, Ihnen das zu sagen?" Sie sind selbst darüber verwundert. Auch mich hat es (aufrichtig gesagt) verwundert, vielleicht auch ein wenig verwundet, da ja mit der Erfüllung Ihres Wunsches ("bald zu zweien zu sein") selbstverständlich das Aufhören unseres Verkehrs verbunden ist. Wenn unsere Wege sich trennen, so will es das Schicksal, dass der Tag, der Ihnen vielleicht als der glücklichste erscheint, mir das Gegentheilige ist, ohne dass Sie dafür können, indem dies Verschulden nur mich selber trifft, der ich seiner Zeit versäumte, mich selbst zu bescheiden. Allerdings hatte ich damals als ich Sie zuerst in Kreuth in Ihrer edlen, einfachen Anmuth als Ideal gesehen, nicht gedacht, dass dies so bald geschehen könnte; aber, wenn heut der Himmel blau, der Horizont wolkenlos ist, so kann das morgen (trotz Trafoi) ganz anders sein. -

Noch hätte ich Ihnen viel zu sagen, aber ich fühle mich fast muthlos; ich weiss nicht in welcher Stimmung Sie bei Lesung dieser Zeilen sein werden; darauf kommt bei Ihnen (wie auch bei mir) so viel an - und wenn man sich sagt: sei einfach "klar und wahr", so kann doch ein einziges Wort viel verderben. Dann vergehen 8-10 Tage bis man sich darüber ausgesprochen hat. So kommt es, dass dieser Brief der zweite seines Datum's ist; den ersten habe ich vernichtet. Sie glauben nicht, wie es mich beunruhigt, wenn mich der Gedanke verfolgt, Ihnen auch nur einen Tag zu trüben, wie ich's leider schon öfter gethan. Dadurch bleibt aber auch unter uns manches Gute ungesprochen. Haben Sie Ihre Frage: "Wie in aller Welt komme ich dazu, Ihnen das zu sagen?" so gemeint, dass ich sie beantworten soll, oder war sie nur als Ausruf gemeint? Ich kann sie schon beantworten, aber nur, wenn Sie es wünschen; und dann muss es ausführlich sein. -

Von W. Rabe kenne ich nur ein Werk, ("Die Chronik der Sperlingsgasse") (er ist jedenfalls ein sehr guter, fast klassisch zu nennender Schriftsteller). Wenn ich Ihnen da und dort ein Buch empfehle, so geschieht das in ganz unverbindlicher Weise und ohne jedweden Nebengedanken, dessen können Sie versichert sein. Bin ich darin überhaupt vorsichtig, so Ihnen gegenüber doppelt. - Dass ich Ihre Briefe immer mit Sehnsucht erwarte, wissen Sie wohl - jetzt mehr als je - warum? Darüber bin ich mir wohl selbst nicht klar. -

 

den 23. 1. Abends.

Was Sie über Franz Liszt schreiben, ist eigenthümlich; sollten Sie wirklich nie ein Bild von ihm früher gesehen haben? In den 60ger und 70ger Jahren besuchte er uns, so oft er nach München kam; besonders mit Miez konversierte er gern; da ging's aber auch Schlag auf Schlag. Einmal war er mit seiner Tochter[1] (damals noch Frau von Bülow) Abends bei uns. Ich erinnere mich noch, dass ich zum ersten mal den Salat anmachte, der sehr gut ausfiel. In Verlauf des Gespächs sagte er, auf seine Tochter deutend: "Oh, Cosima! c'est ma terrible fille, elle a trop de moi!" ich habe später oft daran gedacht. (Der war kein Philister!) In der Konversation war Liszt sehr geistreich und liebenswürdig; im "Deutschen" stotterte er sehr stark. Später besuchte er mich (oder uns) nicht mehr; er hatte wohl erwartet, dass ich mich (in musical.) seiner Partei anschliessen würde, was aber nicht geschah. Sein ganzes Wesen war eigentlich französisch, oder vielleicht noch mehr kosmopolitisch - Alles nur nicht deutsch. Dazu der Anzug eines Abbé - für viele Leute (besonders Damen) war er faszinierend, für mich nicht. Miez zeichnete mit Kohle sein lebensgrosses Portrait.

 

24. 1. Abends.

Ihre Bemerkung, dass Sie ein Opferleben, wie das meiner Schwester befremde, erinnert mich an eine hübsche Episode. Im Jahre 1869 studierte eine arme junge Musiklehrerin Frl. A. P. bei Bülow und mir; meine Frau nahm sich sehr des dankbaren Mädchens an, das als Doppelwaise durch Klavierunterricht noch einen jüngeren Bruder ernähren musste! Diese Kleine war eine rührende Gestalt, (wie "Little Dorrit" bei Dickens) heiter, selbständig, unverzagt, fleissig und klug, - mit allen Tugenden geschmückt, ausser der der Schönheit; dafür hatte sie ganz wundervolles blondes Haar, das sie stolz in zwei mächtigen Zöpfen trug. Ungefähr sechs Jahre später besuchte uns eine amerikanische Dame, stellte sich meiner Frau mit der Bitte vor, ihr womöglich die Adresse jener kleinen Klavierlehrerin zu verschaffen, mit der sie (früher auch in München studierend) sehr befreundet gewesen sei; sie hätte damals Alles verloren, war als fremd in die bitterste Noth geraten; man hatte ihr alles Verkäufliche genommen, und sie schuldete ihrem hartherzigen Hausherrn noch 45 fl, die sie um nicht als Schwindlerin auf die Strasse gesetzt zu werden, in ein paar Tagen zahlen sollte. In ihrer Verzweiflung dachte sie schon daran, sich zu ertränken - und klagte ihr Leid ihrer fast ebenso armen Freundin. Die hatte selbst kein Geld, vertröstete ihre Freundin auf morgen: sie wolle recht nachdenken, vielleicht falle ihr was ein. Anderen Tags erschien sie triumphierend, legte blanke 45 fl. auf den Tisch. Aber um welchen Preis? sie hatte sich von dem Hoffriseur ihre herrlichen Haare (das Einzige, was an ihr schön war!) abschneiden lassen, dafür 50 fl. bekommen und die noch ärmere Freundin gerettet. Die Amerikanerin schluchzte vor Rührung, als sie's erzählte; sie war inzwischen in Amerika in gute Verhältnisse gekommen, hatte aber nie mehr die Adresse des Frl. A. P. erfahren können. "Das glaube ich gern", sagte Miez, "sie hat ihren kleinen Bruder bis zum Einjährigen aufgepäppelt, ihm ihre kleinen Ersparnisse geschenkt, und heisst jetzt "Schwester Cäcilia" in dem kleinen Klösterchen vor der Stadt Innsbruck, wo ich sie erst vor kurzer Zeit mit meinem Mann am Sprechgitter gesprochen habe, nachdem wir sie Orgel spielen gehört hatten." - Ist es nicht tröstlich, dass es heute noch solche Leute gibt? Schwester Cäcilia ist mir mit rührender Treue zugethan und hat mir erst auf Neujahr einen heiteren Brief geschrieben.

Vom 18.-19. Januar hatte ich einen sonderbaren Traum: ich stieg bei dem Pförtnerhäuschen in Kreuth die Strasse hinan und freute mich sehr, keine Herzbeschwerden dabei zu verspüren. Da kam eine schwarzgekleidete Gestalt die Strasse herunter und ging an mir vorüber, fremd, ohne ein Zeichen des Erinnern's zu geben, und verschwand in der Richtung zur Langenau. Ich sah ihr lange nach, hoffend, dass sie sich noch einmal umsehen würde; vergeblich. Es war die Gestalt meines Freundes. Ich erbat mir von meinem ägyptischen Namensvetter, dem Traumdeuter Pharao's, die Deutung: "Nunc peregrinus, tunc amicus." Träume sind dummes Zeug; und doch verstimmte es mich den ganzen 19. Januar; sogar trotz Ihres lieben Briefes, und theilte sich die dumme Verstimmung noch den letzten zwei Seiten meines Schreibens mit, das Sie am Montag erhalten haben werden.

Warum soll der kleine Rechnungsfehler, auf den ich Sie aufmerksam zu machen mir erlaubte, zu "Ihrem Schaden" gewesen sein? Ich konnte das nicht verstehen; es war wohl nur "façon de parler" - nicht?

Wie mir gestern meine Schwester mittheilte, hat meine geisteskranke Nichte Hermine die Nachricht von dem Tod ihrer Mutter nicht aufzufassen vermocht; sie sprach nur die zwei Worte: "Liebe Mama!" Hermine war sehr begabt, aber verschlossen. Sie hatte vor zwei Jahren, ohne dass Jemand eine Ahnung davon hatte, ein Buch geschrieben[2] und herausgegeben und schickte mir damals auf Weihnachten ein Exemplar mit einem sehr hübschen Brief, den ich, herzlich aufmunternd, erwiderte. Ob nun die Aufregung, so ein Werk an dem sie zwei Jahre heimlich gearbeitet, in die Öffentlichkeit zu bringen, mit an der Geisteskrankheit schuld war, weiss ich nicht - oder war es ein Erbtheil ihrer verstorbenen Mutter? Wie geheimnisvoll die geistigen Vorgänge sind! -

Gelegentlich werde ich Ihnen eine kleine Photographie meiner Heimath schicken, wenn es meine hohe Gebieterin interessiert - den Tummelplatz Ihres ergebensten Freundes, als derselbe noch ein kleiner Junge war, was leider sehr - lange her ist! Das Bildchen hat mein Neffe Egon (angehender Bildhauer) fabriziert, indem er gelegentlich auch als Photograph dilettiert. Verzeihen Sie die vielen Familiengeschichten! ...

Bei meinem nächsten Brief wird es schon Februar sein, nun wird die Zeit Flügel bekommen - rasch enteilen - ach! es ist zum Melancholischwerden!,

mit herzlichstem Grusse schliessend

Ihr Jos. Rheinberger.

27. 1. 01.

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[1] mit seiner Tochter = Cosima (1837-1930), die spätere Gattin Richard Wagners.

[2] ein Buch geschrieben = «Gutenberg - Schalun» Eine Geschichte aus dem 14. Jahrhundert von Hermine Rheinberger. Chur 1897.