München, den 2. 1. 01
Meine sehr verehrte Freundin!
Nun ist der Winter mit aller Macht eingebrochen - heute früh war 12 Grad unter Null; wohl zur verdienten Strafe für mein Winteridyll. Dafür verpflichte ich mich aber es nicht wieder zu thun: d. h. den Teufel nicht an die Wand zu malen - lieber statt dessen den gemüthlicheren "Wauwaule". Ach, und die schönen elf far-niente Tage! Da konnte man nach Herzenslust brieflich plaudern, ohne auf die paar Abendstunden angewiesen zu sein! Januar und Februar sind für empfindliche Brustorgane böse Monate, aber man hat doch das Gefühl, dass nach denselben der Frühling - der Sommer kommen muss, der von mir so sehr ersehnt wird unberufen! Was ich an Neujahrskarten und Briefen leisten musste, war heuer besonders arg; es ist so gar kein geistiges Interesse dabei; Absender und Empfänger sind sich zu 2/3 gleichgültig, und doch muss man dem Herkömmlichen huldigen. Man kauft in München Enthebungskarten, die zwar veröffentlicht aber dann ignoriert werden. In Berlin wohl ebenso.
Sie meinen, dass ich auf den vielen einsamen Spaziergängen und Spaziersitzungen immer mit Komponieren beschäftigt gewesen sei - gewiss nicht; ich hatte mir als heilbedürftiger Patient vorgenommen, aller Musik auszuweichen. Doch liess sich das der zwei Sängerinnen wegen nicht ganz genau einhalten und so musizierten wir in der Woche zwei oder dreimal je eine Stunde lang. Zu meiner geringen Freude fanden sich jedesmal jene Damen v. S. ein, die Sie erst in der Equipage "vorbeirollen" sahen. Sie kamen und gingen aber immer ohne Gruss, was uns Anderen "ungeheuer wehe that". Das war aber auch Alles. In der Einsamkeit hatte ich viel "Gedankenarbeit", wenn man das so nennen darf. Wer wohl den Löwenantheil davon bekam? Ich habe von jung auf diese hindämmernden Träumereien sehr geliebt; sie haben etwas Verlockendes und sind manchmal nicht ohne Nutzen - man ist in ruhiger Stimmung und überlegt sich Manches doch besser, als in mitten der Tagesgeschäfte und des geselligen Trubels. Schöner ist's freilich noch, wenn man die Gesellschaft eines vertrauten, sympathischen Freundes dabei hat - da war mir mein verstorbener Schüler und Kollege Giehrl von dem ich Ihnen (glaube ich) schon schrieb, geradezu unersetzlich; er kam, wenn er es irgend wie ermöglichen konnte, immer auf einige Tage nach Kreuth. Aber solche Freunde sind selten und sterben gewöhnlich früh weg, wie er im 35ten Lebensjahre, einige Wochen nach meiner Frau. Er war wohl die liebenswürdigste Natur unter all den Künstlern, die ich kennen lernte und mir unbeschreiblich zugethan. Freunde wie Völderndorff, Rintelen, Ille habe und hatte ich auch lieb, aber doch erst zu spät näher kennen gelernt, um in vertrautere Beziehung zu treten, zudem waren sie mir doch in den Jahren zu sehr voraus - zehn bis fünfzehn Jahre mehr oder weniger macht in den Lebensanschauungen (besonders in der Kunst) schon Viel aus. -
Sie haben, meine theure Freundin, wiederholt bemerkt, dass ich die "Moderne" nicht liebe; das ist zwar wahr, aber ich unterschreibe doch gern, was Sie in einem der ersten, lieben Briefe darüber bemerkten: dass das Gute davon bleiben, das Andere von selbst abfallen werde. Hierin sind wir also Eins. An Defregger haben Sie aber doch übersehen, dass er wirklich mehr als jeder andere deutsche Künstler der Maler seines Volkes ist - und das ist doch auch ein Grosses! Nicht?
Schliesslich schreiben Sie: "Ich weiss nicht, ob ich da recht komme mit diesem langen Schreiben?" Ich bitte Sie, meine theuerste Freundin, so etwas nicht zu glauben; wenn Sie wüssten, welche Freude, welche Wohlthat ein Brief von Ihnen mir in meiner Vereinsamung ist, welche Pietät ich für Alles hege, was im Zusammenhang mit Ihnen ist, wie hoch ich Sie über Alles schätze, so könnten Sie im Ernste nicht so fragen. Das überrascht Sie auch nicht, da ich es ähnlich schon öfter bemerkte, aber ich habe das Gefühl, es immer wieder sagen zu müssen. Es ist wohl seltsam, dass es so kam, aber doch nicht zu beklagen? -
Ich glaube nun so ziemlich alle Fragen Ihres letzten Briefes beantwortet oder doch gestreift zu haben. Wenn ich am Schluss eines jeden Briefes denselben als Ganzes durchlese, habe ich immer das Gefühl, dass ich Ihnen im Verhältniss zuviel des Traurigen oder doch des Trüben mittheile, so dass Sie keine rechte Freude an diesen Herzensergiessungen haben könnten; dann aber sind Ihre Antworten so voll Theilnahme und Nachsicht, dass ich immer wieder in das alte Fahrwasser gerathe. Wenn ich etwas Heiteres mitzutheilen habe, so thue ich es gewissenhaft - aber leider Gottes komme ich selten in diesen Fall. Merkwürdig ist es, wie viel theilnehmende Musikerbriefe von Unbekannten ich immer aus Amerika bekomme; es vergeht gewiss keine Woche ohne solche, und doch habe ich keine rechte Freude mehr daran. Ich habe nämlich den Fehler, von Natur aus gar nicht neugierig zu sein. Miez hingegen war es (in Betreff meiner) in hohem Grade; ich konnte geöffnete Briefe von fremder Hand Wochen lang auf ihrem Schreibtisch liegen sehen, ohne sie auch nur zu berühren; ich habe auch von je Scheu gehabt, einen fremden Brief zu lesen. Wenn aber ich einen Brief von unbekannter Herkunft bekam, sagte ich oft scheinbar ernst: "Der kann warten, den öffne ich erst Abends oder morgen!" "Nein, bitte, lass mich den Brief öffnen - er enthält gewiss etwas Schönes; ich will ihn dir vorlesen, (Letzteres konnte sie trotz der besten Schauspielerin) nur nicht warten!" Da musste ich denn doch der getreuen Sekretärin, die mir durch Jahre fast alle Schreibgeschäfte unermüdlich besorgte, nachgeben. Die schönen, werthvollen Briefe wurden dann Abends (nach der Schachpartie) in Buchformulare eingepappt. Ich besitze viele Bände derselben. Auch diese müssen gelegentlich vernichtet werden, was ich immer wieder hinausschiebe. Und so habe ich viele melancholische Aufgaben vor mir, an welche man nur schweren Herzens geht. -
4. 12. (meint Januar 01) Abends.
In dem ich vorhin nochmals Ihren letzten Brief durchlas, um zu sehen, ob ich nichts zu beantworten vergessen, stehe ich noch ganz im Banne desselben. Dieser Ausdruck der Herzlichkeit und Liebenswürdigkeit von der ersten bis zur letzten Zeile - diese Feinheit der Empfindung bei der grössten Einfachheit der Darstellung hat mich wieder auf's Höchste entzückt! Und doch schreibe ich es Ihnen nicht unbefangen, weil Sie glauben könnten, dass ich Ihnen zu schmeicheln beabsichtige. Aber ich meine, doch schon in manchem Briefe an Sie bewiesen zu haben, dass ich meine Ansicht immer freimüthig und auf die Gefahr hin, selbst manchmal misszufallen, ausgesprochen habe. Oder nicht? Und doch müsste es Sie freuen, wenn Sie sehen könnten, welche hohe Freude mir so ein Schreiben von Ihnen gewährt; ich weiss bestimmt, dass, wie viele Jahre Ihnen der gütige Gott gewähren wird, Sie niemals wieder eine Menschenseele finden werden, die mein tiefes Verständniss für jede Ihrer Äusserungen und mein volles Auffassen Ihrer Ideen haben wird. Sonderbar! Manchmal denke ich mir, dass wir, in ein und derselben Stadt lebend, uns vielleicht fremder geblieben wären, weil durch ein gelegentliches Sich-sehen ein brieflicher Austausch, wie er uns geworden, wohl nicht zu Stande gekommen wäre. (Auf diese Art suche ich mich halt zu trösten, wenn ich das persönliche Fernsein schmerzlich empfinde.) Ferner habe ich schon bemerkt (und Sie wohl auch!) dass ich Ihnen Dies und Jenes schon öfter geschrieben, - aber wenn das Herz voll ist, fliesst die Feder leicht über - und ich denke mir: so gut man ein schönes und sympathisches Musikstück gern öfter hört, so kann man ein aus der Tiefe des Herzens kommendes Wort auch öfter hören; ist es doch bei Gedanken ähnlich: es vergeht kein Tag, wo ich Sie nicht in der Vorstellung am Bache des Herzogwäldchens mir so und so oft vergegenwärtige - und immer empfinde ich neue Herzensfreude dabei. Oder ich denke an Ihren Abschied am 10. August Abend, den ich noch so neu und tief fühle, wie damals selbst - oder ich sehe Sie in Gedanken, wie Sie Tags darauf in dem sich entfernenden Wagen sassen, Alles mit sich führend, was mir vom Glück geblieben! Das Alles ist sehr töricht und aufrichtig von mir, und Ihnen auch nicht mehr überraschend, und doch schreibe ich's wieder - warum? weil mir die Empfindung täglich wieder neu und lebendig ist - darum seien Sie nachsichtig und gütig gegen meine "Expektorationen", die ja auch "vergehen und zerfliessen wie ein Traum!"
Dem 5. 1. 01.
Gestern starb dahier der berühmte griechische Maler Gysis, dessen sich vielleicht meine hohe Gebieterin erinnert; er war wenigstens mit seiner Frau im Juli und August in "Eden", woselbst ich ihn auch erst persönlich kennen lernte. Er war schwer leidend, aber mir auch sehr sympathisch, wie ebenso seine Bilder. Darin habe ich so oft Unglück: einen lieb gewordenen Menschen rasch zu verlieren; wie im Gegentheil Leute, die ich nicht mag, ein furchtbar zähes Leben haben. (Diese Bemerkung klingt roh und ungerecht; ich nehme sie bedauernd zurück und gönne sogar jedem meiner Feinde das Alter Methusalems.) Es war eigentlich auch nur scherzhaft gemeint. -
Eben erhielt ich einen Brief von Geh. Oberjustizrath Rintelen, den der Tod Ille's doch recht berührte. Er schreibt, er komme jetzt nurmehr meinetwegen nach Kreuth und scheint mir seine Stimmung recht melancholisch. Es ist nun sibirisch kalt in München und friert es mich beim Ausgehen trotz des dicken Pelzmantels; ohne warmes Herz wäre man ganz schlecht daran - zum Glück fehlt dasselbe nicht. - Dafür ist es wenigstens Abends am Schreibtisch und Klavier behaglich und gemüthlich - eigentlich die einzige Zeit, wo ich mich wohl fühle. Denn nach dem Abendessen bleibt mir doch nicht übrig, als irgend ein Buch zu lesen und das greift schliesslich die Augennerven an und so treten schliesslich alle Faktoren zusammen, das Leben düsterer zu gestalten. Mir irgendwie Gesellschaft zu verschaffen kann ich mich nicht entschliessen - mir sind nur wenig Menschen so werth, dass ich sie viel um mich haben könnte, und ist mein Gefühl für absolute Unabhängigkeit auch viel zu sehr ausgeprägt. So ist mir schwer zu helfen und eine wahre Kalamität für mich, dass ich Olga nicht mehr haben kann, nachdem sie sich durch fünf Jahre schon an den "Brummbären" gewöhnt hatte, der für sie doch eigentlich ein "Wauwaule" war. (Aber ein lieber.) Wenn Sie nun, meine hohe und edle Gebieterin, da und dort einen Brief oder die Stelle eines Briefes etwas schwermüthig angehaucht finden, so bitte ich das noch nicht tragisch zu nehmen - es ist eben Grundstimmung und nicht etwa durch ein Ereigniss momentan hervorgerufen; ich kann aber leider die Besorgniss nicht los werden, dass Sie dies schliesslich überdrüssig machen muss und Sie sich mehr und mehr von mir zurückziehen werden. So schwarzen Gedanken bin ich leider nur zu leicht zugänglich und es ist des Grübelns kein Ende, wenn nicht etwa ein theurer Brief oder wenigstens eine liebe, wolkenlose Karte (wie die aus Trafoi) mein seelisches Gleichgewicht wieder herstellt. Wie reich ist, wer durch wenig Worte, die aus gutem Herzen kommen, so segensreich wirken und wohlthun kann!
den 6. 1. 01.
Dank, tausend Dank für Ihren mich wunderbar ergreifenden Brief! Wie viel edler sind Sie als ich! Kaum hatte ich mein unglückseliges Winteridyll abgesendet, als mich tiefe Reue erfasste - ich musste mir ja denken, wie schmerzlich Sie, meine so feinfühlige und hochverehrte Freundin, von so manchen meiner Bemerkungen berührt werden könnten. Aber es war zu spät - der arme Brief war fort! Wenn ich dann Ihren letzten Brief las, der so unaussprechlich lieb und vertrauend und schattenlos ist, so innig und gut - dann fühlte ich solche Reue, Ihnen mit jenem Idyll weh zu thun, dass ich bis heute keine ruhige Minute mehr hatte. Und als heute früh acht Uhr kein Brief von Ihnen kam, stieg meine Unruhe auf's Höchste - meine unglückselige, rastlose Fantasie gaukelte mir alles mögliche und unmögliche vor - trotz der 13 Grad Kälte ging ich aus, da es mich nicht mehr zu Hause litt - ich ging auf's "Museum" (ein Herrenklublokal) um Zeitungen zu lesen - keine Möglichkeit - was gingen mich alle Chinesen, Buren und Engländer an! Um elf Uhr fuhr ich heim, da um diese Zeit der zweite Briefträger kommt - nichts - endlich um ¾ 12 kam er, der liebe Brief, der meine Bangigkeit beschwichtigte und Ihre Herzensgüte mir auf's Neue bestätigte! Nochmals tausend Dank! Ich glaube aber fast, als ich das Idyll schrieb, fühlte ich mich noch unglücklicher als der empfangende Freund, der mir trotz meiner, so ungerecht harten Worte, niemals theurer war! Glauben Sie ja nicht, meine theuerste Freundin, dass ich eigensinnigerweise mich darauf steife, alle meine Überzeugungen und Ansichten über die höchsten Fragen der Menschheit Ihnen aufzuzwingen, dazu bin ich wohl im besten Sinne des Wortes zu tolerant - mir war nur der Gedanke schmerzhaft, fast unerträglich, dass das, was mir das Höchste und Heiligste, Ihnen ein quasi-niente sei; Gott sei Dank: es ist nicht so. - Ihr lieber Brief hat mich vollständig beruhigt und dadurch wieder glücklich gemacht. Nennen Sie es auch nicht Misstrauen, wenn ich manche Stellen Ihrer Briefe vielleicht zu schwer, zu pessimistisch auffasste; ich bin mir wohl bewusst, in Folge meiner nicht normalen Gesundheit zu sehr zur Schwermuth geneigt zu sein. Ein Verdruss, eine Unannehmlichkeit, über die ich vielleicht vor drei Jahren gelacht hätte, bewirkt jetzt, dass ich einen ganzen Tag nichts zu essen mag; dazu die peinliche Schlaflosigkeit! Wie sehr beneide ich Sie, dass Sie nach Paris reisen können! Mir ist leider wegen des sich so leicht einstellenden Herzklopfens jede grössere Reise unmöglich; die damit verbundene Bangigkeit ist so beängstigend, dass man nur den einen Wunsch hegt: zu Hause zu sein. Es war mir im vergangenen Sommer (abgesehen selbst von dem Glücke, mit Ihnen persönlich bekannt geworden zu sein) in Kreuth verhältnissmässig so wohl und behaglich, wie seit Langem nicht mehr, - das ging aber im Spätherbst wieder verloren. - Wie lieb und wohltuend ist die Stelle: "Aber an eins glaub' ich jetzt fest: an ein Wiedersehen in Kreuth - ... ja, Dein Freund kommt zu Dir." wie kann ich genug danken für die lieben, lieben Worte? Es ist ja mein innigster Wunsch, dass sie in Erfüllung gehen mögen. -
Wegen des Conzerts kann ich Ihnen noch nichts Näheres sagen, als dass ein mir unbekannter Musikdirektor (Ewert) zweimal an mich geschrieben hat, er wolle zu einem wohlthätigen Zwecke ein Conzert mit Compositionen meiner Wenigkeit im März veranstalten unter Mitwirkung seines gemischten Chores ("Cäcilia") und der Damen Herzog und Rintelen. Da mir dieser Herr unbekannt (und Ihr Freund bekanntlich "misstrauisch") ist, so bat ich Frl. E. R. mir Näheres zu schreiben, habe aber noch keine Antwort. Vielleicht wird nichts "Gescheidtes" daraus. - Jetzt sind wohl nur mehr siebzehn, die den Vortritt haben? ich glaube, dass gar viele Paare im Gefühle des momentanen Glückes nicht an den furchtbaren Ernst der Ehe denken! Wenn sich zwei nicht so lieben, dass sie sich jederzeit für einander todschlagen liessen, so sollen sie lieber ledig bleiben; die erste Empfindung, dass man nicht zusammen passt und doch gefesselt bleibt, muss schrecklich sein. Und erst die Masse "scheinbar" glücklicher Ehen, hinter denen sich oft eine Hölle verbirgt, ist grösser als man glaubt. Das strenge Ehegesetz bei uns schützt wenigstens die Frau mehr, da doch 5/6 der Scheidungen von den Männern ausgehen und es dann doch nicht vorkommen kann, dass die verstossene Frau, die noch den Namen ihres Mannes trägt, demselben in Gesellschaft oder auf Spaziergängen mit ihrer "Nachfolgerin" begegnet, wie es in hiesigen Künstlerkreisen sich oft ereignet. -
Eben hatte ich die Freude eines Besuches des Herrn Königs, der es bei mir sehr gemüthlich fand. Wir sangen beide Ihr Lob, und immer wusste ich das Gespräch wieder auf meine edle Gebieterin zu bringen. Er lässt Sie herzlichst grüssen, hat noch keine definitive Wohnung und freut sich schon wieder auf Kreuth und - ach! auf das tägliche Frühstück auf der Alpe. Ich gönne es dem Armen, wenn ich selbst auch nicht Theil daran haben kann! -
Dieser Brief ist kürzer als die letzten Briefe waren - ich möchte ihn morgen absenden, um Sie, meine theure Freundin nicht länger auf meinen herzlichen Dank für Ihre heutigen Mittheilungen warten zu lassen; hoffentlich trifft er Sie Dienstag früh 8 bei vollem Wohlsein an. Wenn ich bedenke, welche Unruhe es mir macht, wenn sich die Ankunft eines Ihrer Briefe (nach meiner Meinung) verzögert, so denke ich mit ernstlichem Bangen an eine hoffentlich noch ferne Zeit - und gerade deswegen gebe ich mich dem Zauber des Verkehrs mit Ihnen so gerne gefangen, weil ich auf ein plötzliches Ende gefasst sein muss. - "Wer weiss, vielleicht erleben wir's, dass sich unsere äusseren Wege trennen - keiner soll auch nur für den nächsten Tag gut sagen". - Trotz des herzigen Kärtchens von Trafoi, das die Wolken zerstreute, kann ich diese Stelle nicht vergessen. Was Sie mir schreiben, ist mir mit ehernem Griffel in's Gefühl geschrieben - ich kann nichts dafür. Wenn sich so eine markante Stelle wie obige findet, so höre ich Sie dieselbe sprechen, nicht nur, dass ich sie lese - ich höre Ihre Stimme so deutlich und genau wie unser Einer Musik hört - und in schlafloser Nacht findet sich Zeit genug, sie zu überdenken. -
Indem ich nun schliesslich diesen Brief überlese, finde ich ihn eigentlich arm an Inhalt, aber reich an gutem Willen - leider drücken die Worte nie genügend aus, was ich Ihnen sagen möchte und zu sagen hätte, aber Sie sind doch überzeugt, dass Alles aus tiefem Herzen kommt! Freund Blüthner lässt für Ihre gütige Meinung bestens danken - aber so theuer mir Musik ist, so sehr sie mir manch trübe Stimmung verklären muss, so ist ihr im Grunde doch ein schwermüthiger Charakter zu eigen, der kein eigentliches Gefühl des Glückes aufkommen lässt; ich möchte sagen: der eigentliche Nerv der Musik (bei mir wenigstens) ist das Gefühl der Sehnsucht nach einem Glück, das immer vor uns zurückweicht! Indem ich hoffe, dass Sie diesen meinen Brief in völlig ungetrübter Stimmung lesen werden, verbleibe ich mit Dank und Verehrung
Ihr alter treuer Freund
Jos. Rheinberger