Rheinberger über Weihnachten, Christentum, Religion...


Winteridyll (Christnacht 1900)

... "es war ein Traum, den wir
zusammen hatten."

Man kann träumen auch ohne Schlaf; ja gerade in schlaflosen Nächten, deren ich leider wenigstens sechs in der Woche habe, drängen sich die Traumbilder, mehr oder weniger zusammenhängend und erfüllen das Herz mit Freude oder Qual - leider mehr mit Letzterem. In einem solchen Traumbild suchte ich sorgfältig alle Briefe und Botschaften meines geliebten Freundes, von dem ich im Hochsommer Abschied genommen und versetzte mich an jene mir so lieb gewordene Stelle auf dem Weg zur Alpe, den er oft, fast täglich gewandelt - fast schäme ich mich einzugestehen, dass mir nur darum dieser traute Platz so lieb geworden. Das Bild war ein anderes; statt des wohligen Waldwebens mit seinem heissen flüsternden Windhauch und den gaukelnden Schmetterlingen zeigte sich der Winter; nicht der fröhliche, schneeglitzernde, sondern der grämige, traurige; von dem es heisst: "Du gehst umher so trüb, kein Blümlein übrig blieb, die Blätter sich verfärben, das Herz möcht' selber sterben." Ich setzte mich auf die Bank, die ich seit den so schönen Tagen des August nicht gesehen und las in den lieben Schmerzensbriefen; keinen übersah ich; sie waren mir alle lieb, auch die, welche stellenweise Trauerrand umgab. (Muss denn der Letztere immer gleich einem Menschen gelten? Gewiss nicht: ich kann eine getäuschte Hoffnung, eine lieb gewordene, gestorbene Illusion auch mit einem Trauerrand versehen!) Leider war das Resultat nicht der Eindruck, den man von einer geschlossenen, fertigen Persönlichkeit hat, dafür fand sich doch zu viel "in sich Widersprechendes". Die herzlichen, glänzenden und geistvollen Stellen, die sich (Gottlob) so zahlreich zeigten, sollen mein Urtheil nicht beirren. Der erste, aus der Zeit, wo wir uns noch ferner standen, begann mit den Worten: "Lieber Freund! darf ich Sie so nennen? "Ja, ja!" sprach es jubelnd in mir, den herzgewinnenden Gruss erwidernd; ich fühlte mich so glücklich, nach Jahren der Vereinsamung eine so sympathische Seele gefunden zu haben; die wollte ich hegen und pflegen mit all der Sorgfalt, die dem viel älteren Freunde die Sorge zum Genuss und zur Freude macht. In fast allem, was unsere ersten Briefe berührten (und wir besprachen die verschiedensten Dinge) fand sich gleiche oder wenigstens nahezu gleiche Gesinnung. Wir waren und sind nicht gleicher Konfession, aber doch derselben christlichen Stammreligion, was ja, bei vernünftiger und wahrhafter gegenseitiger Toleranz kein Hinderniss der zur Freundschaft nöthigen Eintracht und Harmonie sein konnte. Ich selbst hatte von jung auf viel Verkehr mit edlen Protestanten; wir verstanden uns immer, obschon ich von jeher überall meine religiöse Gesinnung voll bekannte. Verächtlich wäre ich mir vorgekommen, wenn ich mich der ältesten Form des Christenthums geschämt hätte. Ich gehöre nicht zu Jenen, die um dem "Menschenthum" zu schmeicheln, den Menschen vom Christen trennen wollen; bei mir ist der Mensch mit dem Christen eins, und untrennbar. Leider fand ich bei dem Freunde nach und nach Einflüsse thätig, die auf gänzliche Abkehr von dem Positiven des Christenthums hinwirkten; ein so junger, kaum 19 jähriger Mann, der selbst bei glänzender Begabung noch nicht die Fülle und den Segen des Christenthums, ja die ungeheure Erscheinung desselben in der Weltgeschichte fassen kann, ist im Handumdrehen mit einem abfälligen Urtheil fertig und kehrt kaltblütig der Lehre des Gottmenschen den Rücken. Das Buch des Christusläugners Harnack[1] gibt "ihm zu denken"! Das Buch des "Theologen", der die Gottheit Christi verwirft, gibt mir allerdings auch "zu denken", aber in einem anderen Sinne! "Christus soll nur Mensch, also seine Lehre ein Schwindel sein" - das lässt sich mein Freund bieten, ohne sich darüber zu empören! es gibt ihm nur "zu denken" - das wirkliche Christenthum aber mit seinen erhabenen Lehren, für die tausende der besten Menschen in den Tod gingen, das wird mit einem kühlen Achselzucken abgethan! Das "gibt wohl nicht zu denken?!" In all seinen Briefen hat mein Freund nie auch nur ein sympatisches Wort für das Christenthum; er geht ihm, wie ich wohl bemerkte, mit peinlicher Sorgfalt aus dem Weg, es geht ihm wie Goethe: es ist ihm unangenehm, ein Kreuz zu sehen. Ich warte vergeblich - er kehrt nicht zurück zu mir! Sonderbar! In seinen Briefen, welche seine Abkehr von dem geoffenbarten Christenthum durchfühlen lassen, findet sich fast immer eine dem Judenthum günstige Notiz. Das ist wohl nur Zufall, denn einen - persönlichen Grund dieser Bevorzugung kann und will ich nicht denken. Ich trete gewiss keinem rechtlichen Juden zu nahe und der gläubige Jude in seiner treuen Anhänglichkeit an seinen alten Glauben ist mir achtungswerth - hier ist Toleranz am Platz. Hingegen das Neujudenthum - vor Allem in der Literatur und gar in der Journalistik! wie das sich ergeht im giftigsten Hass gegen Alles, was dem Christen heilig ist - man lese gewisse leider auch unter den Christen verbreitete Zeitungen in Berlin und noch mehr in Wien, und behalte ruhiges Blut! Hier Toleranz zu üben ist mehr als Schwäche - ist Charakterlosigkeit! Dass der Pastorssohn Lessing (dessen anderweitigen grossen Verdiensten um die deutsche Literatur nicht zu nahe getreten werden soll) seinem Hass gegen das positive Christenthum in dem von "Humanitätsreligion" triefenden Juden Nathan Ausdruck gegeben hat, indem er dem Juden und Türken, als Vertreter des Christenthums einen Schurken gegenüberstellte - auch das schlucken die geduldigen Christen hinunter und bewundern es noch "im Namen der Toleranz" - bewundern diese Religion der Humanität, die die bequemste von Allen ist, für Leute, die genug Geld haben, und hinter der doch gar nichts ist, wie hinter einer schön bemalten Theaterkulisse! Von dem Geldjudenthum nicht zu reden - hier sprechen die Gerichtssäle. - Ach, ich warte vergeblich - er kehrt nicht zurück zu mir! - Weit grösser und genialer als Lessing, ja grösser als Menschenkenner wie sämtliche Dichter der Vor- und Jetztzeit ist Shakespeare; der zeichnet den Normaljuden: Shylock! -

Ich habe meinen jungen Freund im Interesse seines Wohls gebeten, eine kurze Zeit seine glaubenszerstörende Lektüre zu unterlassen. Er antwortete mir nicht. Er schrieb von Allem möglichen, lieb wie immer, von dem mir Wichtigsten - nichts. Nach einiger Zeit erinnerte ich ihn in zarter Weise wieder daran. Er schwieg. Das that mir weh; er kehrt nicht mehr zurück zu mir!

Wohl fühl ich aus seinen Briefen, dass mein Warnen und Bitten ihm unangenehm geworden ist. Er schreibt zwar: er habe Religion und möchte ohne dieselbe nicht leben (0, wenn dem so wäre), fügt aber bei: seine Religion, nach der er tief zu graben habe. Welche Religion? Eine bessere als die christliche? Er gräbt nach dem Lichte, dem er doch den Rücken kehrt! Was wird er auf diesem Wege finden? Armes freiwillig blindes Kind! Wer hat die furchtbare Verantwortung auf sich geladen, dich auf diesen Irrweg zu führen und nicht mehr los zu lassen? "Grabesstille wundersam, wo er schläft am Kreuzesstamm. Dicht davor in langen Reih'n knien, die ihm Seufzer weih'n. Ich nur stehe aufrecht da, fühle nicht den Heiland nah. Demuth mangelt meinem Sinn, aller Glaube starb dahin." (M. Greif.)

Er kehrt nicht mehr zu mir zurück - Beweis ist der jüngst mir übersandte Brief, in dem sich wörtlich die unglaubliche Stelle findet: "Nicht was der Mensch glaubt - wie er glaubt, darauf kommt's an - ". Ich traute meinen Augen nicht, las es dreimal, - ja es steht so da, noch unterstrichen! Das Herz zitterte mir im Leibe - es ist also gleichgültig, was der Mensch glaubt! Das ist die Verneinung Gottesm, noch dazu in schroffster Form! Zum Glück kann aber dieser Satz vor der Logik gar nicht bestehen, denn wenn die Substanz, die ja die Hauptsache, gleichgültig ist, dann ist es die Form, das "wie" noch viel mehr. Ist das nun wirklich mein so theuerer Freund, der auf solchen Abweg kam? "Nimmer, nimmer wünsch' ich noch neuer Freundschaft Glück, morgen gäb' mein Herz ja doch ihm den Schwur zurück." (Greif)

 

Abgesehen hiervon sind seine Briefe von der alten Herzlichkeit, Bescheidenheit und Liebenswürdigkeit, sodass man sich ihm gerne gefangen gibt. Ich stehe hier geradezu vor einem psychologischen Räthsel - vor einer Doppelnatur. Und doch fürchte ich, dass er nicht mehr zu mir zurückkehrt! Ich lese wiederholt verschiedene Stellen - kein Zweifel - er ist abgefallen! Wenn er nun am Bild des Gekreuzigten vorübergeht, wird er scheu die Augen niederschlagen? Oder wird er gefühllos keck hinaufsehen und sich denken: "Dir geschah Recht, warum hast du dich für einen Gott ausgegeben, der du ja (nach Harnack's Untersuchungen) nur ein Mensch bist." Die alten Juden verhöhnten und spuckten ihn noch an, die modernen thun das Letztere wenigstens nicht direkt, weil die Möglichkeit mit dem Strafgesetz in Konflikt zu kommen, vorhanden ist. (Man vergleiche den Fall Dr. R. in Erlangen, der bei der Vivisektion eines Frosches denselben kreuzigte und zu den Studenten schmunzelnd sagte: "Der sieht nun aus wie ein Christus!" Er bekam leider nur einen Verweis - das war doch nicht "intolerant".) Wie einfach, verständlich und erhaben ist doch die christliche Religion! Wenn ihr Stifter sagt: "lch bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" und dann das furchtbare: "Wer nicht für mich ist, ist wider mich" - so versteht das Jedermann, sogar ein Kind - ähnlich ist es mit fast allen Aussprüchen des Erlösers, z. B. "Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden" - welche Donnerkraft liegt in diesen Worten! Und du gräbst weiter auf der falschen, abschüssigen Seite; armer Freund! arm, weil du schon den Glauben an ein jenseitiges Fortleben nach dem Tod preisgegeben hast, wie ich einer Äusserung (bei Gelegenheit von Hiller's Tod) entnahm. Armes Kind, wem verdankst du in deinen so glücklichen Jahren deinen so unnatürlichen Unglauben und den noch unnatürlicheren Trotz darin zu verharren, obschon dein eigenes Gewissen dich warnt? Mich durchschauerts bei diesem Räthsel! Eine unsagbare Trauer ergreift mich - mir treten die Thränen in die Augen, wenn ich sein liebes, treues Bild ansehe und wünschen muss, ihn nicht so sehr geliebt zu haben - denn er kehrt nicht zu mir zurück! Meine Bitten und Warnungen, zu denen ich mich wohl berechtigt glaubte, wurden nicht beantwortet - nur einmal findet sich die kühle Ablehnung: "Es hilft doch nichts, Sie können mir auch nicht helfen." - d. h. in's Reale übersetzt: "Du, der geistig so beschränkt ist, noch an die Göttlichkeit der christlichen Religion zu glauben, bemühe Dich hierin nicht weiter." - Warum bemühe und bemühe ich mich aber doch weiter, so sehr das sonst nicht meine Art ist? Er kehrt ja doch nicht zurück zu mir! -

Das von den Felsen herabfliessende Wasser rauscht unablässig und höhnend zu mir herauf: "Sahst du ein Glück vorüber gehn?" "0 schaue nur hinein, hinein!", "Blick unverwandt hinab zum Fluss" - "was dir, - vom Herzen ward gerissen" - "0 starre nur hinein" - "s'ist gut in einen Strom zu sehn" - "du wirst es leichter missen" - "Hinträumend, Vergessenheit" - "des Herzens Wunde schliessen." - So rauscht es sinnlos und unablässig durcheinander. Mich durchschauerts eisig in dieser Felseneinsamkeit! Ein Alp, der nicht wegzuwälzen ist, liegt auf der mühsam athmenden Brust. - Wird er nicht kommen, den ich so sehnlich erwarte? Ja, er wird kommen, vielleicht später, vielleicht schon bald, - er wird in diese Felsenwildnis kommen, mich aufzusuchen - er wird mich nicht mehr finden; ich werde nicht mehr da sein! es wird ihm schwer auf's Herz fallen; so oft er an dieser Stätte vorübergehen wird, wird sein Blick mit wehem Gefühl diese leere Bank streifen, wo ich mit heissem Sehnen vergeblich ihn erwartete. -

"Du aber, göttliches Kind in ärmlicher Krippe, dessen frohe Ankunft alle Menschen erfüllt, die eines guten Willens sind, - du, dessen Licht der bisher im Finstern wandelnden Menschheit leuchtet, leuchte auch Jenen, die sich absichtlich von dir abwenden und in ihrem kleinlichen Menschenhochmuth die Augen schliessen, um deine Göttlichkeit nicht sehen zu müssen. Je mehr du geschmäht, verleugnet, verachtet, ja gehasst wirst, (selbst von Jenen, die sich gewohnheitsmässig noch Christen nennen) je mehr sich die bethörte und gedankenlose Menge von dir wegwendet, um so theurer sollst du mir sein, umsomehr will ich dich lieben! Ich habe im Leben viel gefehlt und viel geirrt, denn "Irren" heisst Menschsein; aber ich habe von jung auf nie an deiner Göttlichkeit gezweifelt und darf mich darum wohl nennen... Beglückt, da aus des Lebens Stürmen der Blumen schönste ich mir gerettet unzerknickt." Das wird und soll mich trösten an dem Tage, wo ich Unweiser mit den Weisen aus dem Morgenlande sagen werde: "Ich habe deinen Stern gesehen, und bin nun gekommen, dich anzubeten!"

Völlig erwacht nun aus dieser Träumerei ging ich von Kälte durchschauert zurück durch den Wald. Es war dunkel. Da sah ich von fern eine mir zugekehrte Lichtgestalt, in weissem, schmucklosen Kleide, wie ich sie einst gesehen in ihrer unbeschreiblichen Holdseligkeit; sie winkte mir freundlich zu; doch konnte ich ihr nicht näher kommen - denn sie wich immer zurück, ohne dass man ein "Schreiten" bemerken konnte. Der freundliche Ausdruck blieb, die Gestalt aber verblasste; dort beim Herzogswäldchen "verwelkte sie zwar nicht wie eine Blume" - wohl aber verging und zerfloss sie wie ein Traum.

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[1] Das Buch des Christusläugners Harnack = Adolf von Harnack (1851-1930), prot. Theologe, seit 1888 Professor für Kirchengeschichte in Berlin. Das Buch = «Das Wesen des Christentums», erschienen 1900.