München, den 12. 12. 00.
Meine theure Freundin!
Es sind nun schon über vier Monate verflossen, seit ich Sie zum letztenmal gesehen und gesprochen habe. Mir kommt es vor, als ob es Jahre der Trennung seien - als ob die grössten Ereignisse dazwischen liegen würden. Der tiefe Eindruck, den Sie mir damals gemacht, ist nicht allein nicht verblasst, sondern eher vertieft worden durch den liebenswürdigen Verkehr, der mir jetzt so theuer geworden. Ich frage nicht, was ich eigentlich als vernünftiger Mensch sollte: wie wird und kann das enden - ich begnüge mich mit dem Gedanken, dass ja kein Unrecht dabei ist, wenn zwei gleichgestimmte Seelen sich über ihr Wohl und Weh gegenseitig aufrichtig aussprechen. Und doch fühle ich als der viel ältere und erfahrenere Theil hie und da etwas wie Verantwortung - ich mache mir dann den Vorwurf, als ob ich Sie, die Sie Ihre frohe heitere Jugend geniessen sollen, irgendwie daran hindere und unwillkürlich zu ernsterer und düsterer Seelenstimmung hindränge. Ich glaube auch da und dort in Ihren Briefen Etwas dergleichen herauszufühlen, nicht herauszulesen. Wohl geb' ich zu, dass ich meinem Naturell nach geneigt bin, Alles schwer zu nehmen Jemand gegenüber, der mir so sehr am Herzen liegt, und suche nach Gründen, die mich hierin entlasten sollen. Es gelingt auch zu Zeiten, doch kehrt der Vorwurf immer wieder! Was kann ich thun? Wie gern würde ich Ihnen nur Heiteres schreiben, wie ich's ja Anderen gegenüber oft thue; aber gezwungen fröhlich zu schreiben ist mir unmöglich wenn ich an Ihr ernstes Gesicht denke. Auch wäre es Lüge meinerseits, denn selbst wenn ich mich tief beglückt fühle, so hat dies mit Frohsinn nichts zu schaffen, wie auch Musik mich innerlich beglücken, und doch nie froh stimmen kann. Es ist dies nur scheinbar ein Widerspruch, denn in der Musik gibt's ungezählte Abstufungen von Glücksempfindung, für welche die Worte fehlen; es gibt Melodien, die mir augenblicklich Tränen in die Augen drängen, obschon ich nach dieser Seite hin nicht schwach bin; es gibt in einzelnen meiner Lieder Stellen, die mir geradezu Weh erregen, wo ein Dritter vielleicht Befriedigung empfindet. Wie schade, dass Ihnen dieses Gebiet weniger bekannt ist - ich habe im Reich der Töne schon merkwürdige Erscheinungen gefunden. -
13. 12. früh.
Es hat mich überrascht und hoch erfreut, heute schon Ihren lieben Brief, den ich erst morgen oder übermorgen erwartete, zu empfangen; ich habe umsomehr für denselben zu danken, als Sie in so bewegten Tagen noch Zeit fanden an mich zu denken. Ob er mich beglückte - ? fast ganz. Dass Sie mich mit Ihrer pessimistischen Lektüre ein klein wenig ärgern wollten, verzeih ich Ihnen: bei Paulsen wird Ihr (von Ihnen so sorglich gehegter) Pessimismus kaum auf die Kosten kommen. Brandes ist mir im Ganzen "gegen den Strich" - genanntes Buch kenne ich übrigens nicht. Vor Sie zu E. Hartmann, Schopenhauer und Nietzsche gelangen, bin ich hoffentlich tod. Doch will ich weder im Scherz noch Ernst dieses Thema ausspinnen und mich bei freundlicheren Bildern aufhalten. Zuvor muss ich aber die Bitte aussprechen, mir keine Gedichte der "Modernen" zuzuschicken, gleichviel wie dieselben heissen - ich habe einen wahren Horror vor dem Zeug, gleichviel ob in Musik, Malerei, Dichtung und Dramaturgie oder gar Philosophie - in München werden wir überschwemmt damit. Völderndorff würde sagen: "0 JetteIe!" Aischilos "Orest" habe ich wohl in meiner (so fernen) Jugend mit Entzücken gelesen und wieder vergessen; ich muss es in der allgemein bewunderten Übersetzung von Will gelegentlich wieder vornehmen.
Der Weihnachtstrubel mag in Ihrem grossen Haushalt freilich arg sein; aber wie glücklich sind Sie, denselben mit allen Angehörigen feiern zu können. Ich habe das letzte im väterlichen Hause gefeierte Christfest anno 1850 mitgemacht - ein halbes Jahrhundert! Auch heuer gibt's mir Manches zu tun: man ist nicht umsonst "Erbonkel" - (eine schöne Würde!) Doch darf ich Gott danken, in der Lage zu sein, Manchem unverhofft eine Freude zu machen. Das ist meine Freude und mein Christfest. Unsere Briefe müssen sich gekreuzt haben; Sie werden über den Umfang meines Riesenbriefes fast erschrocken sein; Sie sehen aber wenigstens daraus, dass ich "viel, viel an Sie denken muss!" Doch habe ich auch viel Zeit dazu - abgesehen von unter Tags in den endlos langen schlaflosen Nächten. Wenn man so Viertelstunde um Viertelstunde schlagen hört und trotz der langen Zwischenpausen dem Morpheus nicht mit Morphium nachhelfen will, so nehmen auch die Gedanken unwillkürlich eine ernste Richtung; man sieht Alles schwärzer und hoffnungsloser, als es vielleicht an sich ist und das "dunkle Pferd" Plato's gewinnt die Oberhand - ich hoffe aber nicht definitiv und werde den Pessimismus bekämpfen, wo ich ihn finde. Aber Sie, meine verehrteste und treueste Freundin, haben doch gewiss keinen Grund, sich der Schwarzseherei hinzugeben. Ich kann freilich Ihr ganzes Wesen nur aus Ihren Briefen beurtheilen - denn wer kann auf den Grund eines Herzens sehen? Aber ich habe aus Allem doch die Überzeugung gewonnen, dass diese Ihre Neigung zum Pessimismus nur durch schlecht gewählte Lektüre künstlich gezüchtet, nicht angeboren ist. Schon früher habe ich Ihnen darüber geschrieben, ohne Spur von Erfolg - trotzdem würde ich es wieder thun, aber es liesse sich vielleicht nicht vermeiden, Sie wehmüthig zu stimmen, was ich meiner sonst so gütigen, hohen Gebieterin nicht anthun will. Lieber will ich schweigen. -
Den 15. 12.
Heute erhielt ich aus Berlin von einem Musikdirektor die Nachricht, dass im März dortselbst ein Rheinberger-Conzertabend stattfinden werde. Jedenfalls hoffe ich, Ihnen bis dahin Näheres berichten zu können, da ich überzeugt bin, dass Sie des Ihnen nicht mehr ganz unbekannten Autors wegen wahrscheinlich das Konzert besuchen wollen. -
Ich hatte wohl im Sinn, Ihnen erst zum Neujahrstag zu schreiben, aber die Pause wäre doch ein bisschen gross. So weit hat es Ihr treuer Freund nun glücklich gebracht: er kann nicht mehr vierzehn Tage ohne Nachricht von seiner hohen Gebieterin sein! -
Meinen Hausnamen Curt erhielt ich von Fanny als ich einmal in Folge einer (in schlechter Laune) etwas rasch und kurz gegebenen Antwort hören musste: "Wenn du so kurz angebunden bist, so sollst du jetzt Curt heissen!" Dabei blieb es. Miez entstand aus "Missis" - in der Praxis wurde dann wohl auch "Kurri" und "Miezi" daraus, je nach dem das "Wetter" war; doch das sind nur liebe Kindereien. -
Sie meinen, Ihr Bild auf meinem Schreibtisch sei Schuld, dass sich mein Notenpapier nicht mit Notenköpfen bedecken wolle; ich solle es hinwegnehmen. Etwas Wahres ist daran; aber nicht das Bild auf dem Schreibtisch, sondern das, welches tief im Herzen sitzt und nicht hinweg genommen werden kann, ist vielleicht Ursache, dass ein Op.: 196 vielleicht um ein paar Monate später auf dem Jahrmarkt des Lebens erscheint, - eine Kalamität, die nicht schwer wiegt. Faktisch ist es mir ein grösserer und lieber Genuss, an Sie zu schreiben, als endlose Notenköpfe aneinander zu reihen; ich lasse mir diese meine glücklichen Stunden von Niemandem und durch nichts schmälern; sie sind ganz mein! -
16. 12.
Das wäre freilich schön, wenn Sie nun in Besitz des neben mir stehenden Sessels wären. Aber was helfen alle Wünsche? Auf genanntem Sessel sassen schon viele bedeutende und interessante Menschen, die mich mit ihrem Besuche erfreuten; im grossen Ganzen ist in meinem Zimmer aJles beim Alten geblieben, nur einige Änderungen bei den Bildern sind eingetreten. Direkt über dem Schreibtisch ist die prächtige Madonna von Sassoferato (die damals noch im Besitz der Schwiegereltern war); vielleicht lasse ich sie einmal photographieren, um Ihnen ein Bild davon geben zu können. Sie ist von unbeschreiblicher Lieblichkeit - eine der wenigen Madonnen, nicht der gewöhnlichen schönen Frauen mit einem konventionellen Knaben; auch das schlafende Kind ist entzückend und das Ganze von tiefreligiöser Weihe. Ich bin schon oft um dieses Bild beneidet worden. - Sodann sind die 7 Rabenbilder (rechts) durch 2 Landschaften ersetzt, die ich im Kunstverein bei der Verlosung gewonnen. Nun sind aber bei mir alle Wände so behängt, dass für Nichts mehr Platz ist; - Alles Andere ist genau, wie auf Ihrer Photographie; nur bin ich abends natürlich im Speisezimmer, das man auf dem Bild sich im Rücken denken muss. Dem Schreibtisch selbst müssen Sie es ordentlich ansehen, dass auf ihm alI die endlosen Briefe an meine theure Freundin geschrieben werden; er ist dies jetzt schon so gewöhnt, dass er kaum etwas anderes duldet! Wie soll das enden? - Nicht fragen! - Für Sie freut es mich in hohem Grade, dass Sie nun der Sorge über der schweren Krankheit; Ihres Herrn Bruders enthoben sind; in seinem Alter erholt man sich ja wunderbar schnell. Wie viel muss Ihre Frau Mutter in dieser Zeit gelitten haben! Da wird freilich nun grosse Ruhe am Platze sein, und Sie werden tüchtig haushalten müssen - 0, wenn ich Sie in solcher Thätigkeit sehen könnte! Sind Sie launisch bei diesen Gelegenheiten - oder macht es Ihnen Freude sich recht nützlich machen zu können? Gelt, das geht mich gar nichts an - und doch wäre es mir so gemüthlich, es zu wissen - Alles, was Sie thun, was von Ihnen ausgeht, was Sie betrifft, ist mir interessant; deswegen ist's ja auch leicht für meine hohe Gebieterin, mir einen interessanten Brief zu schreiben. Über Weihnachten und Neujahr sollen Sie sich aber nicht damit plagen: wenn Sie mir nur ein- oder das anderemal einen Gruss schicken!
16. 12. Abends.
Miez' Dichtungen hätte ich Ihnen natürlich längst selbst gegeben, allein ich dachte, dass dieselben, als in einem Ihnen fremden Boden wurzelnd, Ihnen weniger ansprechend sein würden - und somit unterliess ich es. Darüber vielleicht ein andermal mehr. - Wieder ist es heute Sonntag, die Witterung mild (wir hatten noch keinen Schnee!), Alles ruhig, nur eine Treppe unter mir lässt sich eine Sängerin hören, nicht eben laut genug, um mir störend zu sein; von der inneren Stadt her tönen die Glocken zum Abendgottesdienst - dieselben Glocken, die ich vor Jahren unter so verschiedenen Gemüthsstimmungen so oft vernommen! Dabei ist mir so unbeschreiblich traurig zu Muthe, dass es fast Unrecht ist, in dieser Stimmung an Sie, meine einzige, hochverehrte Freundin zu schreiben, - und doch ist es thöricht - wer weiss, ob und wann Sie dieser Brief erreicht, und Sie dann in einer besseren Gemüthsverfassung (als ich gegenwärthig bin) sich befinden werden. Ich will mir gewaltsam vorstellen, dass mein Freund (aus dem Sommeridyll) hier rechts neben mir auf dem Besuchsstuhl sitze, und ich ihm Alles anvertraue, was hier zu Papier gebracht ist; ich höre deutlich seine antwortende süsse Stimme und bestrebe mich, mir jedes seiner Worte einzuprägen. Er versteht es aber auch, warum ich ihm seiner Zeit sagte, dass ich viel, viel an ihn denken werde müssen und wie das so sehr eingetroffen ist. -
Genau vor 10 Jahren war der (so berühmte nun verstorbene) Tenor Vogl[1] bei uns um die unter dem Eindruck des Königsdramas[2] im Starnbergersee entstandenen Lieder "Am Seegestade"[3] zu studieren. Er sang sie dann im Weihnachtsconzert der musikalischen Akademie in Gegenwart der k. Prinzen, die der Text vielleicht eigenthümlich berührt haben mag. Miez sagte darnach, dass sie wahre Angst ausgestanden habe und mir war auch nicht ganz behaglich zu Muthe. Das ist nun auch Alles längst vorbei, und weggestorben - vergessen. -
Sind Sie mit Frl. Ottilie in Korrespondenz? Ich begegne sie nie; sie hat durch den Tod ihres Onkels sehr viel verloren und wird sich nun in Manches schwer fügen. Völderndorff war Miez auch sehr sympatisch und ein treuer Freund meines Schwiegervaters. Leute von so viel Herzensgüte bei so umfassender Bildung sind in höheren Kreisen nach und nach selten geworden; auch war er ebenso weltklug wie charakterfest. Wenn er auch Gegner hatte, so doch ganz gewiss keine persönlichen Feinde. -
Ein kleines Stündchen Musik hat mir jetzt gut gethan. Gerade vor mir (unter der Madonna) hängt ein Bild Mozart's "Am Clavichord"[4] (aus seinem Sterbejahr 1791), das sehr selten und mir sehr lieb ist. Es weicht von den traditionellen Mozartbildern ab und ist eine Photographie nach dem Ölbild von Mozart's Schwager Lange; ich habe vor etwa 25 Jahren eine kleine Photographie desselben in Salzburg vorgefunden und sie hier vergrössern lassen. Joachim[5] fand es auch sehr charakteristisch. Mozart ist mir der Liebste aller Komponisten, ohne anderen Grössen zu nahe zu treten. Ich habe 1849, als ich in Feldkirch studierte, einen alten Mann gekannt, der als Student 1790 bei Mozart ein- und ausging; der musste mir gewiss ein dutzendmal jedes Wort wiederholen, was er mit Mozart gewechselt hatte. Er war nämlich damals stolz auf seine gewaltige Bassstimme und wollte bei Mozart Singstunde nehmen. Als er nun, aufgefordert seine Stimme möglichst kräftig ertönen liess, sprang der zartbesaitete Meister vom Clavier auf, hielt sich die Ohren zu und sagte: "Verzeihn's lieber Herr! aber an' Ochsen kann i's Singen net lernen!" -
Hier haben Sie also ein wahre Mozart-Anekdote, die noch nicht gedruckt ist. -
17. 12.
Wie in dem alten Drama (auch bei Shakespeare und mehr noch bei Calderon, Lopez de Vega) die "lustigen Personen" mitten in den Ernst der Tragik eingreifen, so gehts auch manchmal im Leben: so kommt hier nach obiger lustiger Geschichte die mir höchst schmerzliche Nachricht von der hoffnungslosen Erkrankung meines alten Kreuther Freundes Eduard Ille, wie mir seine trostlose Frau eben in einem Billette mittheilt. Sie kennen ja Ille's auch gut, oder nicht? er war ein origineller Maler, höchst interessanter Mensch; auch Redakteur der "Fliegenden Blätter". -
Das wunderbare "Wanderers Nachtlied" von Goethe, an welches ich durch einen theuren Brief erinnert wurde, klingt auch mir im Herzen, und so habe ich es gestern für meine hohe Gebieterin komponiert. Da dieselbe aber leider nicht singt, so soll es uns Frl. E. R. in Kreuth vorsingen, wenn wir uns in Kreuth Alle wieder zusammen finden - für alle Fälle werde ich es Ihnen (da es Ihr Eigenthum ist) gelegentlich zusenden. Sie sehen daraus, dass das Bild auf dem Schreibtisch kein Hinderniss für meine musikalische Thätigkeit ist und Sie also durchaus nicht sicher sind selbst in Musik gesetzt zu werden; ja, das oben erwähnte Lied macht schon den Anfang dazu! Das Lied soll mir eine liebe Erinnerung an Sie sein und bleiben; so oft ich mir's spiele und leise mitsinge, denke ich dann: "Der Du von dem Himmel bist. ") So sucht sich ein Einsiedler seine Abendstunden zu verträumen, da ihm schliesslich doch nichts Anderes bleibt! Sie haben wohl keine Idee, wie sich Töne mit der Erinnerung zu Einem verbinden und welch unaussprechliche Empfindungen sie dann nach Jahren wachrufen können! - Es liegt doch ein unsagbarer Trost in Kunst und Poesie - sie machen in leiser, linder Art Gemüthsstimmungen weniger schmerzlich, die sonst kaum zu ertragen wären. Sie lehren nicht Vergessenheit - im Gegentheil - aber sie umkleiden den Schmerz der Entsagung mit einer gewissen Verklärung und nehmen ihm dadurch den verwundenden Stachel - ja sie verhindern die Prosa des Unglücks. Glauben Sie nicht, dass dies nur so in die Nacht hinaus geschwärmt -, oder das Produkt eines krankhaften Gemüthes sei, was ich hier niederschreibe - nein - es ist Alles gefühlt und durchlebt - allerdings nicht gerade von einem "Verstandesmenschen".-
(Dienstag, den 18. Dezember)
Das kleine Gedicht von Longfellow war mir natürlich nicht unverständlich, doch ist Ihre Übersetzung viel besser, als die von mir "verbrochene". - Ästhetiker Vischer war vor ungefähr 28 Jahren auch ein paar Tage in Kreuth. Abends hörten wir ihm gerne zu. Was er sprach (und er sprach unaufhörlich) war geistreich - aber in einem so furchbar derben Schwabendialekt, dass er "allgemeines Schütteln des Kopfes" hervorrief. Auch mir ging es so, während mir ein leises "Schwäbeln" ungemein sympatisch ist und mich aus der fernen Kindheit anheimelt. - In Ihrer Sprech- und Schreibweise ist gar nichts "berlinerisches") - höchstens, dass Sie einmal "mal" sagen vielmehr schreiben, denn ach! ich hörte Sie fast nie sprechen, und kann mir doch den Ton Ihrer Stimme so genau vergegen- wärtigen! O wie viel hab' ich in Kreuth versäumt! Das ist Alles nun verloren; auch werden Sie kaum das richtige Verständniss dafür haben und mich hierin kaum begreifen, - begreife ich mich manchmal selber nicht mehr. (Mein armer Prof. Maier - dass der es nicht erlebte!) - Was halten Sie von Vorahnungen? Wir haben über diese Seite des menschlichen Intellekts noch nie gesprochen; ich bin sehr neugierig über Ihre Ansicht. Es ist ein weites, weites unerklärliches Gebiet, über das ich viel Ursache zum "Nachgrübeln" fand. Hierin zeigt sich so sehr die unendlich verschiedene Organisation der Menschen; die ohne Nerven kommen jedenfalls am Besten zurecht; jedenfalls sind sie zu beneiden!
19. 12.
Um zehn Uhr nach Hause kommend, fand ich Ihren unbeschreiblich lieben Brief, der meinem Herzen in trüber Stunde so unendlich wohl that! ich sage nochmal: wie reich sind Sie, einem Freunde solche Freude geben zu können! Ich habe im Leben sehr viele Ehrungen, Auszeichnungen und dergl. erhaltep und "durchgemacht", die Fanny immer hoch erfreuten und - mich immer nur verlegen und beschämt machten; das ist mir von jung auf geblieben, indem ich schon als Kind viel Lob "schlucken" musste, was aber mein strenger und kluger Vater unschädlich zu machen verstand. Aber seit acht Jahren habe ich keine wahre Freude mehr erfahren ausser durch Sie, meine theure Freundin, der ich dafür dankbar die wohlthätige Hand küsse. Sie üben einen geradezu unerklärlichen Einfluss auf mich aus; im Mittelalter würde man es "behexen" genannt haben - doch schweige ich davon. - Ihr Brief gibt mir so Viel zu beantworten auf, dass ich das mit mehr Musse und ruhigerem Herzen thun muss; wofür wären sonst auch meine traulichen Abendstunden? Eben schickt mir Frau Ille die Todesnachricht ihres Gatten; morgen Donnerstag wird er beerdigt. Eigentlich sollte ich zu dieser Trauerhandlung gehen, doch ist es für meine "löschpapierene" Gesundheit besser, wenn ich's nicht thue - ich lasse es besser bei einem Briefe an die Witwe bewenden. -
Wie kamen Sie auf mein Op.: 136 "Aus verborgenem ThaI"? (Langenauer ThaI gemeint). Dorther stammen Text und Musik, und hat manches der Lieder seine "eigene Geschichte". Frl. Poiger singt sie mit viel Wärme und Leidenschaft. (Das letzte "Entschlafen" galt der Erinnerung an unseren Freund von Holstein, und "Amalie" der an mein Schwesterchen. "Die Mühle", die damals noch nicht abgebrochen war, musste mir die Dichterin auch speziell verfassen.) - Ach! ich hätte noch so Viel zu schreiben, aber der Brief verlangt schon Donnerstag Ihnen "guten Morgen" zu sagen, - nun so gehe er hin und bringe dem Freunde aus dem Sommeridyll den herzlichsten Gruss und Dank für den lieben ungetrübten Brief! Alles Andere muss also später beantwortet werden.
Und nun Gott befohlen!
In treuer, inniger Verehrung
Ihr Jos. Rheinberger