München, den 29. 11. 00.
Theuerste Freundin!
Heute früh kam endlich Ihr lieber, unerwarteter Brief, wie ich Ihnen am Schlusse meiner gleich hierauf abgefertigten langen Epistel schon Kund gethan habe. In Ihrer Bescheidenheit sprechen Sie die Befürchtung aus, dass ich durch den bloss schriftlichen Verkehr eine falsche und zwar zu günstige Vorstellung Ihrer ganzen Persönlichkeit gewänne, die dann der Wirklichkeit nicht entspreche; es wäre Ihnen doch schmerzlich, wenn Sie aus dem Ton meiner Briefe eine gewisse Enttäuschung herausfühlen müssten. Dass ich eine weit grössere Lebenserfahrung haben muss, ist ja natürlich, da ich wenigstens vierzig Lebensjahre voraus, und dieselben nicht verschlafen habe. Aber all Ihre Befürchtungen sind gegenstandslos, denn sonst wären wir gewiss nicht über zwei oder drei Briefe hinausgekommen. Glauben Sie mir: ich fühlte sogleich den geistigen Fonds, der in Ihnen ist, und der mir den schriftlichen Verkehr, dessen Sie mich werth hielten, so unendlich anziehend macht. Unter all den vielen Frauen, die ich kennen gelernt, ist (eine Verstorbene ausgenommen) nicht eine Einzige, der ich drei oder vier solcher Briefseiten wie diese hier hätte widmen können. Es gibt ein gewisses Vertrauen, von dem man sich nicht Rechenschaft geben kann - das sich aber anderseits auch durch die besten Vernunftgründe nicht erzwingen lässt. Dieses unbewusste Vertrauen hatte ich von Anfang an zu Ihnen - warum, weiss ich freilich nicht. Und reut Sie denn das? Ich glaube doch nicht. - Wenn Sie da und dort einmal Ansichten äussern, die mir nicht gefallen, oder die mir falsch zu sein scheinen, so sag ich das freimüthig (ja ich habe es schon gethan) und bitte ich Sie, das gegenseitig auch so zu halten. Sollte aber der fast undenkbare Fall eintreten, dass sich unsere Lebensansichten ganz feindlich gestalten, nun, dann werde ich Sie "Gnädiges Fräulein" nennen und Sie mich mit einem "Herrn Geheimrath" anfremden! Gelt, so wollen wir es halten! -
Und nun etwas, was sich schwer sagen lässt, ohne Missverständniss: glauben Sie mir, ich muthe Ihnen nicht zu, dass ich die Werthschätzung, die ich für Sie hege, ebenso erwidert erwarte - meine Werthschätzung Ihrer, oder wie nah Sie meinem Empfinden sind, ist ganz meine Angelegenheit, die Sie zu gar nichts verpflichtet, oder angeht - dass Ihnen meine Freundschaft ja auch werth ist, haben Sie mir genugsam bewiesen. Ich stehe allein, bin nach allen Seiten frei und unabhängig, und wenn ich alle freundschaftliche Zuneigung auf Jemand konzentriere, so geht das Niemand an, weil Niemand das Recht hätte, sich verkürzt zu glauben. Bei Ihnen ist dies Alles anders: Sie haben zunächst Ihre zahlreichen Angehörigen, die den ersten Anspruch auf Sie haben; vielleicht haben Sie auch Freundschaften, die Ihnen näher stehen, als ich - ich kann es ja nicht wissen - Sie sehen also, dass Sie sich durch mich nicht beengt zu fühlen brauchen. Habe ich mich in dieser Sache vielleicht ungeschickt ausgedrückt, so verzeihen Sie!
Sie schreiben unter Anderm: "Wer weiss, wie manche frohere Stunde Ihnen noch im Leben beschieden ist" - Die Hand auf's Herz, das glauben Sie selber nicht - und erst ich! Woher sollen diese froheren Stunden kommen? Ich habe im Leben auch viel frohe und glückliche Stunden gehabt und habe kein Recht zu erwarten, dass sie wiederkehren. Wäre mein Gesundheitszustand gut, so könnte ich durch weite Reisen gewaltsam mich zerstreuen und dadurch vielleicht auch das wunde Gemüth ausheilen, - aber so: beim Gedanken an eine Eisenbahn überläuft mich schon eine Gänsehaut. Sie sehen, der Novembernebel, den Sie zerreissen möchten, ist heute noch (am Tage des letzten Nov.) dicht. - Sie schreiben das liebe Wort: "Denken Sie nicht, Sie müssten mich verschonen mit melancholischen Gedanken, die Ihnen in die Feder fliessen - ich möchte, dass Sie weiter das Gefühl haben, mir Alles sagen zu können." ... Wie bin ich Ihnen dankbar dafür, denn sonst müsste ich ja aufhören, Ihnen zu schreiben. - Hat Ihnen also Frl. Emmy R. meinen Gruss vom 22ten August aus Kreuth noch nicht ausgerichtet? Der wird sich hübsch altgebacken ausnehmen bis er einmal an die geehrte Adresse gelangt; komisch mag es sein, wenn Sie mit einem Gegengruss ihr zuvorkommen. Sie hegt übrigens eine warme Verehrung für meine hohe Gebieterin, wird aber hierin von mir noch weit übertroffen. Wir haben oft von Ihnen gesprochen, was ich immer mit diplomatischer Schlauheit einzuleiten wusste, desswegen war ich ja doch nicht falsch? Ich musste mich doch hie und da ein bisschen aussprechen können - Viel konnte es ja den Umständen gemäss nicht sein! -
30. 11.
Um den heutigen Brief (den Sie wohl empfangen haben werden) auszulesen, müssen sie gewiss eine Stunde gebraucht haben - ich glaube, es ist der längste, der je meiner Feder entflossen ist. Ich will es nicht wieder tun - sagen doch meine Bekannten, ich schriebe nur im Telegrammstil. Immer möchte ich Ihnen Manches mittheilen, was sich dann geschrieben und nachgelesen so alltäglich und unbedeutend wie möglich ausnimmt. Aber ich weiss, dass Sie Nachsicht mit meiner Schreiberei haben, und ich verdiene dieselbe meiner treuen, Ihnen gewidmeten Freundschaft halber, die Sie bei Niemandem inniger finden werden. Wenn ich die verflossenen acht Jahre überdenke, kommen mir dieselben todt und inhaltlos vor; ich hatte für Niemand mehr ein persönliches Interesse und lebte eigentlich nur mehr für meine Arbeiten. Ich hatte vor einem Jahre noch gar nicht für möglich gehalten, dass ich Briefe von acht bis zehn enggeschriebenen Seiten zustande brächte - und jetzt kenne ich mich kaum mehr!
1. 12.
Gestern Abend machte ich mir die Freude, Ihre sämtlichen Briefe und Briefkarten der Reihe nach durchzulesen. Da war mir zu Muthe wie in einem Garten zur Frühlingszeit, wenn Alles blüht; ich hörte in Gedanken Ihre Stimme, die ich mir, obschon ich sie in Wirklichkeit so wenig oft gehört habe; ganz genau vergegenwärtigen kann; und somit waren es ein paar höchst genussvolle Stunden für mich, den Einsiedler! Wie mir da wechselnd Wohl und Weh durchs Herz zog - (wenn es des Letzteren mehr war, so sind Sie ja nicht schuld daran!) Wie gerne ich mich der wenigen Minuten, die mir in Ihrer Gesellschaft vergönnt waren, erinnerte und des tiefen, unauslöschlichen Eindruck's Ihres ganzen Wesens, da durfte ich dann freilich nicht an den Kontrast der mir bevorstehenden Zukunft denken! Aber noch will ich mich jeder glücklichen Stunde erfreuen, die mir durch unseren brieflichen Verkehr bereitet wird, und glauben, dass wir uns im (ach! so fernen) Sommer wieder frohgemuth sehen werden. - Dass wäre wahre Lebenslust für mich! Ich habe nun auch die ausführliche, reklamehafte Bücheranzeige "Eine Glückliche"[1], "Hedwig von Holstein in ihren Briefen und Tagebüchern" erhalten; ich kann nicht glauben, dass dies noch von der Verstorbenen so angeordnet war, obschon sie manchmal das Unerwartete liebte. Sie war übrigens sehr mit Miez befreundet, obschon ihre Ansichten sich oft kreuzten.
1. 12.
Heute haben wir zum ersten Mal Schnee, und ist somit der Winter in seiner ganzen Unliebenswürdigkeit eingezogen; das will und muss halt auch überstanden sein, wenn man zu dem schönen Frühjahr gelangen will. Ich habe die besten Vorsätze gemacht, meine Stimmung nicht auf das barometrische Minimum hinabdrücken zu lassen und habe mir wiederum Notenpapier auf den Schreibtisch gelegt, was früher sich öfter als heilkräftig bewährte. Es will aber noch nichts Rechtes werden und so kommt es wenigstens meinen arg vernachlässigten Korrespondenzen zu gut. Unter Letzteren sind aber nicht die mit meiner hohen Gebieterin zu verstehen - diese habe ich ganz gewiss nicht vernachlässigt! Au contraire - Ich habe fast das Schuldbewusstsein, Sie zu sehr mit ellenlangen Episteln überhäuft zu haben; zwar ist von Ihrer Seite noch keine Klage laut geworden, aber daran könnte schliesslich Ihre mir oft bewiesene Güte und Nachsicht schuld sein. Wenn ich Ihnen aber nicht oft schreibe, so kann ich folgerichtig auch auf keine Antwort meiner theuren Freundin rechnen, und dann fühle ich mich schwer gestraft - und wenn ich es schon zehnmal gesagt habe, so sage ich es auch das elftemal: meine grösste Lebensfreude ist es, wenn ein Brief von Ihnen kommt! Am Schlusse Ihres letzten Schreibens werde ich "Brummbär" genannt - einem kaum zwanzigjährigen Übermuth gegenüber nimmt man das nicht allein nicht übel, sondern man bedankt sich noch für den gemüthlichen Titel und küsst die liebe Hand, die denselben "aufgeschrieben"! Sollte der Bär aber einmal Ursache zum Brummen haben, so wird er es sicher thun. -
2. 12.
Wenn es in Berlin heute eben so trüb ist, wie hier, so werden Sie kaum radeln - vielleicht eher am Schreibtisch sitzen und auch (ein klein wenig) meiner gedenken. - Um 10 Uhr hatte ich Sitzung und als ich um 12 heimkam: Ihr Brief, Ihr lieber Brief, den ich erst etwa übermorgen erwartete! Welche unaussprechliche Freude er mir machte! Wie reich ist, wer Andern solche Freude machen kann! - Der so trübe Tag ist mir nun voll Sonnenschein und dankbar empfinde ich immer auf's neue, wie kostbar, wie unersetzlich mir der briefliche Austausch mit Ihnen ist! Was Sie mir auch immer schreiben, hat für mich Interesse - ich brauche mir nicht erst "Steinchen um Steinchen zusammen tragen, um ein Mosaikbild von Ihnen zu erhalten", wie Sie meinten - das Bild, das ich in mir trage, ist längst fertig und unzerstörbar. -
Ich hatte hier einen Lehrer, Prof. Maier[2], dem ich Viel verdanke, und der mich von jung auf in's Herz geschlossen hatte, freilich auf seine Art, d. h. man konnte ihm nicht leicht etwas recht machen. Er interessierte sich auch später aufs höchlichste für Alles, was ich that. Besonders beunruhigte ihn meine beabsichtigte Heirath, die nach seiner (gegen seine Frau geäusserten Ansicht) mich total unglücklich machen würde. Doch genierte er sich, mir gegenüber seine Orakelsprüche loszulassen, was ich wohl bemerkte. Einmal frug er mich um Rath wegen einer schweren (musik.) Übersetzung aus dem Italienischen, und ich war so boshaft zu sagen, Niemand mache dergleichen besser, als Frau von Hoffnaas. Ich vermittelte diese Angelegenheit und der gute Prof. Maier benützte die Gelegenheit, Fanny vor der vermeintlichen Unglücksverbindung zu warnen. "Sehen Sie, verehrteste Frau! Rheinberger hat seine vortrefflichen Eigenschaften, ich kenne ihn von jung auf, er ist durchaus reell, von scharfem Verstand, aber - wenig Gemüth - ja ich möchte sagen: er ist 3/4 Verstandesmensch, - vielleicht 3/4 eiskalter Verstandesmensch!" (Das sagte ein grundgelehrter Mann, mit dem ich 16 Jahre lang verkehrt hatte!) Fanny lächelte: "Lieber Herr Professor, was das anbelangt, habe ich vielleicht doch ein genaueres Urtheil, nehmen Sie mir's nicht übel." Er hatte aber noch einen Pfeil in seinem Köcher. "Gnädige Frau, dann ist noch sehr zu bedenken, dass Rheinberger aus streng religiöser Familie stammt und wohl dieselbe Gesinnung hat." "Dann", meinte Fanny lachend, "ist er mir noch viel lieber als bisher!" Und somit scheiterte die gutgemeinte Warnung und Professor blieb unser Beider lieber Hausfreund bis an sein seliges Ende 1889. Ich aber, so oft ich in meiner unergründlichen Gemüthsfülle einen dummen Streich machte, musste hören: "0 du 3/4 eiskalter Verstandesmensch!" Gern hätte ich es kürzer erzählt, aber es liess sich nicht machen.
Greif's "Agnes Bernauer" gefiel sehr; er hat in seinem Stück volksthümlicherweise den "Engel von Augsburg" betont; besonders die religiösen Partien sollen von erschütternder Wirkung gewesen sein. Hebbel's "Agnes Bernauer" wurde von dem Dichter 1853 hier einstudiert und aufgeführt, gefiel aber gar nicht. -
Greif hat auch eine Francesca von Rimini geschrieben, die ich aber noch nicht kenne. -
Böcklin's Einsiedler[3] (mit dem kl. Engel) und M. Angelos "Erschaffung Adam's" ist eine gute künstlerische Wahl - auch dessen Erschaffung Eva's ist originell.
Also das "pessimistische Gift" stammt von einem Vetter - ich wünsche demselben alles mögliche Gute - aber ein 19jähriges Mädchen mit solchen Ideen anzufüllen, ist geradezu unverzeihlich. Es ist wie Morphium, betäubt und vergiftet, indem es bald anzuregen und zu beruhigen scheint. Weg mit dem Gift, wo es doch eine solche Fülle von guter und gesunder Lektüre gibt. "Jo, el rey" unterzeichnete der König von Spanien - "Ich, der Brummbär" unterzeichne ich. -
Wie freut es mich, dass ich Ihnen die Photographie meiner "Brummbärenhöhle" und meiner um 30 Jahre jüngeren Wenigkeit senden darf; hatte ich doch gefürchtet, dass sich Letzterer etwas zudringlich ausnehmen könnte - was mir furchtbar penible wäre.
Longfellow[4] liebe ich sehr, doch ist mein Englisch zu schwach, um Poesie in dieser Sprache gut verstehen zu können - hierin sind Sie die mir unbedingt überlegene hohe Gebieterin, der ich mich gern beuge. - "Spöttisch lächeln", von mir auf Sie angewandt, gibt es nicht; thut mir als Ausdruck geradezu weh, wenn ich der Pietät gedenke, die ich für Alles, was Sie betrifft, hege. "Ich, der Brummbär"! Wenn Sie vielleicht wegen Ihrer Vorliebe für ältere Freunde wieder geneckt werden, sagen Sie nur frisch, es sei auch ein alter Brummbär darunter, den Sie aber nicht nennen wollen; Sie wüssten nur, dass derselbe Sommerszeit das Jagdrevier von Kreuth unsicher mache, aber bisher noch kein Lamm zerrissen habe. Apropos, was macht Ihr Photographieren für Fortschritte? Ich interessiere mich sehr dafür. - Wenn mein nächster (Gratulations-) Brief sehr kurz sein wird, so nehmen Sie es nicht zu ernstlich: Sie wissen ohnedem, dass Niemand auf der weiten Welt existiert, für die ich wärmere Glückwünsche hege! Ich denke, da heute (Sonntag) die Post gesperrt ist, dieser Brief also erst morgen Nachmittag zur Post kommt, er Ihnen Dienstag früh 8 Uhr "Guten Morgen" sagen wird, während ich Ihnen, meine theure Freundin,
"Gute Nacht" sage,
als Ihr stets getreuer
Jos. Rheinberger