München 23. 11. 00.
(Schon vor einer Woche geschrieben)
Meine theure Freundin!
Sie werden wohl verwundert gewesen sein, schon umgehend die Antwort auf Ihren lieben Brief vorzufinden - es geht mir eigens mit Ihren Briefen: wenn ich dieselben zum zweiten oder dritten Mal durchlese, treffe ich in jedem derselben eine bald mehr oder auch leiser befremdende Stelle, die mich, wenn nicht gerade beunruhigt, so doch beschäftigt und nachdenklich macht. Ach, es scheint dass ich Ihnen gegenüber fast zu feinfühlig geworden bin und Sie mich dann, wenn ich im nächsten Briefe um die Erklärung bitte, ohne Beantwortung lassen; das mag meinerseits verdient sein, ist aber doch ein wenig grausam. - Wenn ich Ihre Briefe zum erstenmal lese, so bin ich immer so erfüllt von deren Inhalt, dass ich meine, jedes Ihrer Worte beantworten zu müssen - wenn ich dann an diese mir so theure Aufgabe gehe, so kommen mir alle möglichen Bedenken. Zuerst, der grosse, tiefe Ernst, mit dem Sie Alles erfassen; es kommt mir dann wie ein Unrecht vor, dass ich Ihnen Ihre jungen, heiteren Tage verdüstere - ich lese das aus Ihren Zeilen, obschon Sie weit entfernt sind, es hineinlegen zu wollen. Dann werde ich ganz muthlos und überlege, wie dem abzuhelfen - schreibe ich Ihnen seltener, so strafe ich mich selbst und meine, die Zwischenzeit nicht ertragen. zu können, - so weit ist es mit Ihrem ergebenen Freunde gekommen! Verzeihen Sie meine Offenheit und beruhigen Sie mich gelegentlich darüber. In Ihrem letzten Briefe philosophieren Sie schon tüchtig darauf los - fast wie Hamlet's "to be, or not to be!" ach! ich höre Ihnen so gerne zu - mir wird Alles, was von Ihnen kommt, zu Musik; aber mit Ausnahme der befremdenden dissonirenden Stellen - und doch müssen diese auch sein, gleichsam vorbereitend - ich fühle das so klar; hier hilft kein sich Selbstanlügen - "einst wird kommen der Tag", heisst es in der Ilias - wo ich meinen jungen Freund verlieren werde - möge dieser Tag noch ferne sein! Jetzt bin ich unglücklicherweise in dieser pessimistischen Tonart, und Ihr verehrter Papa hätte ganz Recht, mir vorzuwerfen, dass ich auch dazu beitrüge, Ihre jungen Tage zu verdüstern, statt zu erheitern. Zum Glücke aber, ich sage es im vollsten Ernst, finden Sie doch Freude, sich im Freien tüchtig Bewegung zu machen, und das ist viel werth! Ich freue mich, dass Sie von sich photographische Aufnahmen machen liessen - die sind gewiss recht gelungen. Das in meinem Besitz befindliche Bild mögen Sie nicht recht? Ich habe es so gern; leider ist das rechte Auge etwas zu sehr im Dunkeln - mit der Loupe betrachtet, kommt es doch recht gut. Dann gefällt mir sehr, dass Sie keinerlei Schmuck tragen. Ich würde an Ihrer Stelle die Kunst des Photographierens sehr ernst nehmen; welche Quelle des Vergnügens kann das sein! Mein Bild von anno 70 (ich weiss das Datum nicht genau) ist beim Photographen - es wird jetzt ungefähr 1/Z grösser, als das in Ihrem Besitz befindliche - wie diese Kopie aber ausfällt, weiss ich nicht. Es hat wenigstens den Vorzug, dass es ohne Brille ist, die sonst das Auge immer verdeckt. Sind Sie kurzsichtig? Bitte, tragen Sie nie eine Zwickbrille, das entstellt so sehr. (Geht mich aber gar nichts an.) Ich freue mich, wenn Sie dann später Ihren Briefen auch Proben Ihrer neuen Kunst beilegen werden, und bin jetzt schon überzeugt, dass Sie gute Bilder liefern werden; aber selbst wenn sie anfänglich weniger gut wären, so sollen sie mir, als von Ihnen kommend doch lieb sein. -
26. 11.
Mein gestriges Plauderstündchen wurde von einem mexikanischen Komponisten ausgefüllt. Da er nicht Deutsch und ich nicht Spanisch konnte, so halfen wir uns beide mit schlechtem Französisch; gut, dass dasselbe nicht vor Ihrem kritischen Ohre zu bestehen hatte. Ich hatte (auf Aufforderung der autographischen Abteilung) der pariser Ausstellung[1] ein kleines Musikstück eingeschickt; das war dort dem Mexikaner aufgefallen und in Folge dessen besuchte er mich nun auf der Durchreise. Man begrüsst sich, schüttelt sich die Hände, bespricht sich, trennt sich, und von Allem "bleibt nur die Erinnerung" wie es auf der Rückseite des Bildes meines lieben Freundes heisst - wie oft ist mir jetzt schon dieser ominöse, melancholische Spruch eingefallen! - Das Goethe'sche Gedicht:[2] "Wer sich der Einsamkeit ergibt, ach! der ist bald allein!" habe ich früher wohl unterschätzt (wenn auch komponiert), es klingt so selbstverständlich - und doch ist ein tiefer Sinn darin - den merkt man aber erst, wenn man ihn selbst erfahren. Meine einsamen Mittagessen sind mir wohl das Peinlichste vom ganzen Tage; ich muss mich fast immer zwingen von jeder Speise zum Schein etwas zu nehmen, schon der Dienstboten wegen. Ach, der schöne Appetitt, den ich in Kreuth hatte, wo ich selbst manchmal vom "Zwetschgenkuchen" nahm, den ich sonst nicht leiden kann (Vergissmeinnicht sind mir nämlich viel lieber)! Ich fürchte, dass ich das, was ich in Kreuth an Gesundheit gewonnen hatte, nun hier schon wieder zugesetzt habe. Das Schlimmste ist mir die gesteigerte Reizbarkeit, die ich bei dem geringsten Verdruss empfinde - genug davon! Ich habe in BerIin einen früheren Schüler, der mir unglaublich anhänglich ist; er schickte mir von Zeit zu Zeit Programme und Berichte unter den Noten: [zwei Noten c und g im Original ???] (Carl Grossmann) lang auch wusste ich nicht, was die zwei Noten zu bedeuten hatten - endlich kam ich zufällig dahinter. - Auch [zwei Noten h und h im Original???] lässt sich ohne grosse Schwierigkeiten deuten; da ist hingegen mit meinem Namen nichts musikalisches anzufangen. - Also die Rückkehr Ihrer verehrten Angehörigen aus Metz ist wieder etwas hinausgeschoben? Denn erst schrieben Sie vom 23. November. Ich wünsche Ihnen das allerfröhlichste Wiedersehen und Ihrem Patienten volle Gesundheit. Wie kann doch ein Familienleben schön sein! wenn ich mich so in Gedanken in Ihre Jahre zurückversetze: wie freute ich mich immer in den Ferien die Angehörigen zu sehen! Wie Viel hat man sich da zu erzählen - und zu verschweigen! Das nimmt sich in der Ferne der Jahre Alles so eigen aus! Wie Vieles war Einem hochwichtig - jetzt lächelt man darüber - aber auch umgekehrt: wie Manches nahm man leicht, das furchtbar ernst geworden! Es findet eben eine Ausgleichung statt: was das Körperliche im Menschen verliert, gewinnt das Geistige und damit soll man sich zufrieden geben. In Ihrem liebenswürdigen Bestreben, mich für gut zu halten, überschätzen Sie meine guten Eigenschaften wohl; meine Frau war besser als ich, war in all ihren Talenten gross angelegt, während ich mit mancher Kleinlichkeit zu kämpfen habe. Wir konnten in Wirklichkeit ein ideales Leben führen (zur grossen Verwunderung so Mancher, die Unheil prophezeiten, weil sie 6 1/Z Jahre älter war, als ich - wir lachten oft darüber) - ja, wenn wir z. B. ein Töchterchen gehabt hätten, wie ich's schon angedeutet habe - (aber gerade so!) so wäre unser Glück vollkommen gewesen und die verhängnisvolle geistige Erkrankung vielleicht nicht eingetreten. Sie sehen, ich schreibe Ihnen all dies mit dem Vertrauen und der Offenheit eines Freundes. Niemanden sonst würde ich's mittheilen. In Kreuth frug ich einmal (natürlich nur so gesprächsweise) Frl. Emmy R.: Welche von den dortigen jungen Damen nach ihrer Ansicht die Vorzüglichste und best Erzogene sei? Sie meinte: ohne allen Vergleich H. H. Ich hatte das erwartet, und doch erfreute mich diese unbefangene Antwort auf's Höchste, und hat selbst die Befragte dadurch sehr bei mir gewonnen. -
Mehrere der von Ihnen angemerkten Gedichte M. Greif's sind nicht in meinem Exemplar (2te Auflage); Sie werden wohl wahrscheinlich die 6te vermehrte Auflage besitzen; ich werde dort nachsehen. - Da heute früh wunderschönes Wetter ist, stelle ich mir Sie "radelnd" vor - Sie sehen, ich beschäftige mich in Gedanken viel zu sehr mit Ihnen, und werde dafür noch büssen müssen - aber es ist nicht zu ändern! -
Heute ist Cäciliensonntag, ein Erinnerungstag für mich. Als ich 8 Jahre alt war, entschied ein Zufall an diesem Tag, dass ich mich ganz der Musik widmen durfte. Ich hatte schon damals eine dreistimmige Messe mit Orgel[3] komponiert, die auch beim Gottesdienst gesungen wurde, was meinen strengen unmusikalischen Vater schon etwas weicher stimmte; ich werde es vielleicht einmal erzählen, wenn ich gerade nichts Besseres zu schreiben weiss; wichtig ist's ja nicht. -. Eben kam Ihr Kärtchen (mit dem Epheublatt) an - ich danke Ihnen für die rasche Beantwortung - was kann ich denn anderes thun, als Ihre Briefe genau lesen und Ihre Bemerkungen vollständig durchzudenken? Soll ich mich hierin ändern? Verzeihen Sie also meine so dringliche Bitte auf Ihren letzten Brief, die nun erledigt ist, und nicht mehr erneuert werden soll. -
Sie sind so besorgt und gut; Sie brauchen nur mich nicht zu betrüben, dann ist's gleich besser. Auch ich werde mich bemühen, Ihnen keine Unruhe mehr zu machen; deswegen braucht man es ja noch lange nicht an gegenseitiger Aufrichtigkeit fehlen zu lassen. - Gott! wenn ich so zurückdenke, wie froh ich war, dass Sie mir von Trafoi aus die Erlaubnis gaben, Ihnen im Laufe des Jahres einmal Nachricht geben zu dürfen - und nun ist erst ein Vierteljahr verflossen und unsere Korrespondenz würde schon einen ganzen Band füllen - und dabei habe ich immer das dunkle Gefühl, Ihnen das Rechte noch nicht mitgetheilt zu haben. d. h. das, was man nur mit Musik ausdrücken kann, was sich der Kritik des Verstandes, also auch des Missverständnisses entzieht! Gut, dass keine Hedwig v. Holstein (sonst eine treffliche, geistreiche Frau!) im Stande ist, unsern Briefwechsel herauszugeben! Man geht darin heutzutage entschieden zu weit: kaum ist Jemand todt, so sollen seine intimsten Gedanken schon preisgegeben werden ohne alle Rücksicht auf die dabei entstehenden Verwundungen. Als Ferd. Hiller gestorben, kam auch an mich die Zumuthung, seine Briefe herauszugeben; ich lehnte ab. Wenn ich an seinen trostlosen letzten Brief (kurz vor seinem Tod) an Fanny denke, wie er sie beneidet um ihren festen Glauben; wie er sein Grauen vor dem sich nähernden, unentrinnbaren Fall in das "dunkle Nichts" (wie er schreibt) - und solche Schmerzenslaute sollen dann Leihbibliotheksfutter werden! Das wäre barbarisch! Ebenso weigerte ich mich, Hans von Bülow's Briefe an mich herzugeben, obschon mir dies in mancher Hinsicht hätte dienlich sein können; aber dieselben sind gespickt mit allerlei kleinen u. grösseren Bosheiten gegen Dritte. Es ist mir lieb, dass Sie mich versicherten, meine Briefe seien für Sie nicht ermüdend - habe ich doch oft das Gefühl, dass ich Ihnen immer dasselbe schreibe. Das kommt aber wohl nur daher, dass ich bei diesen Briefen immer in derselben Gemüthsstimmung bin - ich, der 3/4-Verstandesmensch! Wenn nun ein lieber Brief von Ihnen ankommt, ist meine Freude immer ungeschwächt dieselbe: ich empfange ihn wie seiner Zeit des Freundes Sträusschen - ich, der 3/4 eiskalte Verstandesmensch! So, nun lachen Sie mich herzlich aus! Aber Sie versichern selber, nicht heiter zu sein. Sehr viel ist daran die Grossstadtluft mit ihrem geistig ungesunden Hasten und Getriebe schuld, wie Sie ja selbst zu bemerken schienen. Wie wahr ist es, dass man gerade für das, was dem Herzen am Nächsten, keine Zeit findet! Da hat das Landleben Viel für sich, nur sollte man es wenigstens ein Vierteljahr geniessen können. Abgesehen von der körperlichen Erholung ist es auch naiver und geistig gesunder, nicht wahr? Man ist da so leicht zufrieden und bescheiden in seinen Ansprüchen, und wenn man gar eine sympatische Geselligkeit findet, kann man sich oft kindlich über Kleinigkeiten freuen. -
Wir hatten früher durch Jahre immer Dienstags von 4-6 1/Z Uhr Gesellschaft bei uns, ganz zwanglos; es wurde musiziert, oder auch nicht; es kamen nur sympathische Leute, und diese kamen gern. Die Abendgesellschaften, die hier wie bei ihnen nur mehr in luxuriösen Tafelgenüssen bestehen, besuchten wir schon lange nicht mehr. Als Fanny gestorben war, hatten wir (Olga und ich) nur hie und da einzelne Gäste zu Tisch - und seit ich allein bin, bleibe ich allein. Doch sind mir die Abende nicht unsympatisch: erst musiziere ich etwa eine halbe Stunde, dann kommt meine glückliche (die einzig glückliche) Stunde, die Ihnen gewidmet ist; diese lasse ich mir nicht gern rauben. Nicht dass ich an den anderen Tag- und Nachtstunden nicht auch Ihrer gedächte (das weiss Gott!) aber diese gehört speziell unserem freundschaftlichen Verkehr. Um halb 8 Uhr esse ich; Thee nehme ich nur an zwei Abenden der Woche; ich glaube, er ist Nervösen nicht sehr anzuempfehlen. Um 10 Uhr spätestens gehe ich zur Ruhe, die ich leider nicht finde. So Tag für Tag. - Merkwürdig, dass Greif's Gedichte sich wenig für Musik eignen; ein paar habe ich wohl gesetzt[4], bin aber nicht zufrieden damit. Ich glaube, sie haben eben Vollmusik in ihrer wunderbar schönen Sprache. Da lese ich z. B. das herrliche: "Auch die Haide blühet - Jahres einmal, - und es ist kein Leben so trostlos, - dass ihm die Freude nicht nahet - einmal." Sie glauben nicht, wie Greif von den anderen sich höher dünkenden Dichtern (ich will keine Namen nennen) gedrückt und wo möglich ignoriert wird. Das thut ihm weh, er ist aber wie ein hilfloses Kind, der grosse vierschrötige Bursche. Sein Name bricht sich übrigens in neuester Zeit Bahn und er hat hier schon eine grosse Partei für sich. - Zu den angenehmsten Erinnerungen meiner Thätigkeit am Theater (1864-67) gehört die Aufführung der Tragödie "Der wunderthätige Magus" von Calderon - es ist der spanische "Faust", den Goethe jedenfalls gekannt hat. Ich erhielt damals den Auftrag, die begleitende Musik dazu zu komponieren und in den Erst-Aufführungen zu dirigieren. Die herrliche Dichtung (die Sie jedenfalls aus der schönen Übersetzung von Gries kennen werden) begeisterte mich sehr und die ganze Affaire ging ausgezeichnet vor sich. Possart[5] spielte damals schon den Dämon. Da ich noch jung war, sah ich im Theater noch ein Stück Ideal. Später wurde ich gescheidter und nach drei Jahren sah ich ein, dass mein Charakter nicht in die Coulissenluft passte, und ging. Trotzdem nahm ich manch schöne Erfahrung und Erinnerung mit, zu denen die darauffolgende Periode Richard Wagner nicht gehörte. Jetzt käme ich mir als Theaterkapellmeister geradezu komisch vor. -
Wenn ich Ihren vorletzten Brief lese, so finde ich eine Stelle, die mich ergreifend berührt - es ist die, wo der Freund sagt: "Grad' so schaut's aus in deinem jungen Freunde! Warum hast du auch den dir grad' erwählt?" Das geht zu Herzen wie eine Mozart'sche Melodie! Verzeihen Sie diese kleine Abschweifung - es wär' halt gar zu schön, wenn man besagten Freund eines schönen Tages wieder die Achenthalerstrasse herauffahren sehen könnte! Gott gebe es! - Hrn. Oberl. K. sah ich gestern zufällig auf der Strasse, konnte ihn aber nicht sprechen; wenn mir Letzteres aber einmal gelingt, richte ich ihm (ohne dazu autorisiert zu sein) einen Gruss von meiner hohen Gebieterin aus, zum Zeichen, dass ich trotz des berühmten grossen "Zwetschgenkuchens" nicht eifersüchtig sein will; weiter geht aber mein Edelmuth nicht! War's damals gemüthlich bei Tisch; ich wollte Ihr Gesicht auswendig lernen, in Ermangelung eines Bildes; merkwürdigerweise gelingt das aber nicht! (Ich sehe mit Erstaunen die Länge dieses Briefes, die nächsten Episteln muss ich denn doch etwas kürzer fassen.) Es hat eben sein Verführerisches, wenn man in einem Briefe an einen lieben Freund so zwanglos in den Tag (die Nacht!) hineinplaudert und sich den Kuckuck um Styl und Freiheit des Ausdruckes kümmert; man fühlt sich der Absolution sicher, und "radelt" halt drauf los! Nicht?
27. 11.
So halb und halb hatte ich heute einen Brief erhofft; ich bin hierin durch Ihre Liebenswürdigkeit schon verwöhnt und muss mir Mühe geben, nicht unbescheiden zu werden - und so will ich mich gerne gedulden, nur nicht gar zu lang. Und wenn ich bedenke, dass Sie gewiss auch sonst durch Briefwechsel in Anspruch genommen sind, so bin ich Ihnen von Herzen dankbar für jede Briefseite, die Sie mir zukommen lassen. Sie haben es darin nicht so leicht, wie ich: wenn ich die Andern warten lasse, so muss es den Betreffenden recht sein. - Darin bin ich nun einmal Egoist; Sie aber werden viele Freundschafts- und Verwandtschaftsverpflichtungen haben, denen Sie wohl nachkommen müssen. Um so theurer sind mir aber Ihre lieben Briefe!
Erschrecken Sie nicht über die endlose Länge dieses Briefes? Es ist jetzt so ruhig und still um mich her - nach den Verdriesslichkeiten des Tages doppelt wohltuend, mich in Gedanken nur mit Ihnen zu beschäftigen - durch kein fremdes, störendes Element in meinen so theuren Erinnerungen gehemmt zu werden. Halten Sie meine Freundschaft desswegen nicht für überschwenglich; sie ist doch ächt und sind meine Äusserungen derselben in nichts übertrieben. Ihre Freundschaft muss mir für Vieles Ersatz sein; sie muss dem Einsamen Gesellschaft, dem Künstler Anregung zum Schaffen bieten und dem Melancholiker Trost sein - Sie sehen, wie unbescheiden ich bin, aber erschrecken Sie desswegen noch nicht, denn das besorgt alles meine lebhafte, zur Träumerei geneigte Fantasie. Sodann will ich die Gelegenheit mit Ihnen zu plaudern jetzt ausnützen - man weiss ja doch nie, was die nächste Zeit bringen wird. Mit Vorliebe gedenke ich immer Ihres improvisierten Abschiedsgrusses im Jahre 1899 - wie das Alles so seltsam kam, da wir uns ja eigentlich kaum kannten - dieser Ihr herzlicher Zug ist mir unvergesslich und meine hohe Gebieterin muss es mir schon zu Gute halten, dass ich so gerne immer wieder darauf zurückkomme. Selbst wenn es Leid im Gefolge haben würde oder haben wird, so denke ich wie unser lieber Dichter: ...
"Ich tauschte nicht mein Leid für Gold, kann ich's auch selbst nicht fassen". Ja, grad' so ist er, Ihr Freund, der 3/4-Verstandesmensch! (Ich muss Ihnen gelegentlich die Entstehung dieses Wortes erzählen; heute bin ich nicht in der dazu geeigneten heiteren Stimmung.) Jetzt glaube ich sicher, dass Morgen früh 8 Uhr ein Brief von Ihnen kommt, schon weil ich grad Morgen ausnahmsweise erst um halb ein Uhr heimkomme und also so lange warten muss, bis ich ihn lesen kann! Manchmal kommen die Berlinerbriefe auch um elf Uhr oder zwei Uhr, Abends aber nie. Wenn man hier einen Brief etwa bis fünf Uhr Abends aufgibt, so bekommen Sie ihn wohl früh acht Uhr - nicht? Es ist ja manchmal gut, wenn man die Zeiten kennt.
28. 11.
Jetzt geht es mir, wie Ihnen vorige Woche - ich fange an ängstlich zu werden - zwar kamen zwei Berliner Briefe, aber nicht mit der sehnlich erwarteten Handschrift; dennoch werde ich geduldig sein und nicht "murren" - ich sage mir immer wieder: "Morgen um so sicherer". Welche Lücke, wenn es einmal hiesse: "Morgen nicht, und überhaupt nie mehr!" Ich wage mir das gar nicht auszudenken; und doch soll man auf Alles gefasst sein! Erscheine ich Ihnen nicht manchmal sehr töricht? gestehen Sie es nur zu! ich könnte eigentlich alt genug sein, um mehr dem Verstand als dem Gefühl zu gehorchen - was sage ich mir nicht Alles vor! Allein was hilft's? -
Und nun eine Bitte: Sie erlauben wohl, dass ich Ihnen zu Ihrem Geburtstag das Bild meines Zimmers und meiner Wenigkeit (wie ich vor 30 Jahren war) übersende? Eine verneinende Antwort würde mich kränken. Mein Zimmer ist unverändert geblieben; nur ist jetzt über dem Schreibtisch, von dem alle Briefe an meine Freundin ausgingen, die Madonna von Sassoferato anstatt dem Bilde meines Schwesterchens, das Fanny gezeichnet hatte. Das Zimmer, zu dem man noch den Einblick hat, war das meiner Frau, das auch 8 Jahre unverändert geblieben ist. Das Ganze ist gar nicht elegant, aber gemüthlich. Die Wohnung (ziemlich altmodisch) geht um die Ecke und hat 9 Fenster Strassenfront, 5 in die Schönfeldstr., 4 in die Fürstenstr.: Fanny's Zimmer (Ecke) hat einen kleinen Balkon. Zuerst kommt Speisezimmer (1 Fenster), dann mein Zimmer (3 Fenster), dann Fanny's Zimmer (3 F.), dann zwei Schlafzimmer, voila tout. - Die ganze Wohnung sollte mal gründlich renoviert werden; aber ich denke mir immer, es sei's nicht mehr werth - und so unterbleibt es. -
Es ist sehr lieb von Ihnen, dass Sie sich auch für Fanny so sehr interessieren; ich bin überzeugt, dass sie auch auf Sie denselben faszinierenden Eindruck gemacht hätte, wie auf die meisten Frauen, selbst auf die scharf kritisierenden; auch blieb ihr diese Eigenschaft in älteren Jahren treu. Ihre Gutherzigkeit war unbeschreiblich. An einem Weihnachtsabend kam sie mit einem kleinen, halberfrorenen, italienischen Strassenmusikanten daher, den sie unter dem Portal eines Schulhauses kauernd gefunden; als sie ihn italienisch ansprach, fing er zu weinen und zu lachen an, und lief wie ein treues Hündchen mit - und hinten drein trabte die ganze Schulklasse aus Neugierde mit. Der kleine "Musico ambulante", wie es in seinem Reisepass hiess, war beim Christbaum wie verklärt und wollte gar nicht mehr fort. -
Wenn nun morgen noch kein Brief von meiner theuren Freundin kommt, so wird diese meine Epistel weiter anschwellen im neuen Plauderstündchen und sich schliesslich zu einer förmlichen Broschüre auswachsen! Schreiben Sie ja etwas "boshafter"-weise am Schlusse Ihres letzten Briefes: "Ich kann nun lange warten". - Nein, das sollen Sie nicht, und dazu den längsten Brief lesen müssen, den ich vielleicht seit 20 Jahren geschrieben habe. Aber das wird sich ändern, denn wenn die kürzesten Tage die längsten Briefe produzieren, so kann es sich ereignen, dass Sie im Juli und August gar keine mehr bekommen, und wir uns zur Abwechslung mit mündlichen Mittheilungen begnügen müssen. 0, das wäre schön - und wenn ich gar wiederum denselben Platz bei Tisch erobern könnte, - ich kann nur sagen: Gott gebe es, dass mir dies Glück noch werde!
Donnerstag, den 29. 11.
Endlich kam Ihr lieber, aber etwas melancholischer Brief an, dessen Ton mich trotzdem anheimelte - ach! schon weil er nur von Ihnen kommt! Sie fürchten, ich idealisiere zu sehr Ihr geistiges Bild - selbst wenn das der Fall wäre, so verlieren Sie ja nicht dabei und ich ebenfalls nicht, - sehr weit wird dies, mein Fantasiebild doch nicht von der Wirklichkeit abweichen! Ob ich A. Th. Hoffmann[6] kenne? Freilich, aber lesen Sie sein Hauptwerk, "Die Fantasiestücke in Callots Manier", lieber nicht. Eine gesundere, heiterere Lektüre wäre Ihnen besser, aber da wird nichts zu machen sein. - Gestern ist Greif's "Agnes Bernauer" erfolgreich zur Aufführung gelangt - ich war leider nicht dabei, da mir gesundheitlich der Theaterbesuch fern liegt. Auch ist es mir zur lieben Gewohnheit geworden, den Abend schreibend oder lesend oder musizierend zu verdämmern. Ihrer Gemüthsstimmung wegen bin ich herzlich froh, wenn Ihre ganze Familie wieder zusammen ist! Es ist mir so peinlich, dass mein Geschreibsel Sie immer so trüb stimmt, schreibe ich Ihnen ja auch Lustiges; aber das hilft auch nicht. Lesen Sie doch "Münchhausen" v. Immermann[7] (mit der herrlichen "Oberhofpartie"); da ist auch viel Lustiges dabei. Lesen Sie keine philosophischen Werke! Lesen Sie die Dorfgeschichten "Schneeballen" des badischen Pfarrers Hansjakob[8], die mir besser zusagen als Keller[9] und Auerbach. -
Jetzt muss aber dieser Brief fort, damit Sie ihn morgen früh haben und in Folge dessen nicht trauriger, sondern heiterer werden und in mir nicht einen freudestörenden, melancholischen "Wau, Wau" sehen, - mir desto bälder wieder den Anblick Ihrer Handschrift gönnen, alle meine schriftlichen "Brummeleien" verzeihen, fest auf ein freudiges Wiedersehen im Sommer hoffen, und mir inzwischen noch viele, viele Briefe schreiben. -
Diese wenigen und so bescheidenen Wünsche fasse ich Alle in einen herzlichen Gruss,
womit ich verbleibe in Treuen
Ihr J. Rh.