Rheinberger sendet Henriette Hecker einige Kompositionen und offenbart seine Fantasien dazu und erzählt von seiner Begegnung mit dem Maler Prof. Anton Seitz etc.


München, den 18. Nov. 00.

Meine theure Freundin!

Scherzes halber übersende ich Ihnen mit diesen Zeilen das eben fertig gestellte Verzeichnis meiner in Druck erschienen Werke[1], damit Sie sehen, dass ich nicht immer so arbeitsscheu war, wie jetzt. Die ohne Opus-Zahl erschienen (circa 36) sind nicht genannt - grösstentheils Gelegenheitskompositionen. Wenn Sie bedenken, dass ich durch 41 Jahre akademischer Lehrer, 17 Jahre Hofkapellmeister, 14 Jahre Dirigent des Oratorien-Vereins war und noch viele Privatschüler hatte, in früheren Jahren auch selbst als Klavier- und Orgelspieler konzertierte, so wird man mir ein gewisses Fleiss-Zeugnis nicht versagen können. Bei all dem bedaure ich nur Eines (wenn ich Rückschau über meine Thätigkeit halte), dass ich wohl meine beste Zeit und Kraft Andern geben musste und nicht für eigene Produktion verwenden konnte. Allein, das lag eben in den gegebenen Verhältnissen und war nicht eigene Wahl. Ich schreibe Ihnen das gewiss ohne Spur von Ruhmrednerei, sondern weil ich will, dass Sie ungefähr die Hauptthätigkeit Ihres ergebenen Freundes kennen, und ihn nicht etwa nur für einen unfruchtbaren Träumer und Melancholiker halten. Dass diese langjährige und anstrengende Thätigkeit die ursprünglich kerngesunde, lebhafte Natur untergraben und in hohem Grad nervös machen musste, kommt mir jetzt erst recht zum Bewusstsein und wird das Bedürfniss des "Ausspannens" immer dringender. (Ich schreibe dies ohne allen Zweck - es ist nur Plauderei mit einem lieben Freunde, statt dass man über das Wetter redet). Wenn das liebe "ich" in dieser Plauderei eine gar zu grosse Rolle spielt, so bitte ich Sie dringend, sich mit noch mehr "ich" zu rächen. Das Liebste in Ihren überhaupt lieben Briefen ist mir immer, wenn Sie von sich selbst reden, Ihre Ansichten ungeniert darlegen ohne Rücksicht, ob es mir auch immer gefalle - denn gar weit werden wir mit unseren Ansichten und Gesinnungen doch selten auseinander sein; ja, ich muss sagen, dass es mich oft überrascht, wie Sie meinen Gedanken Worte geben! Habe ich das am Ende schon geahnt oder gefühlt, als ich Sie zuerst kennen gelernt? Es muss solche unbegreifliche Bande geben. Die Gelehrten können doch nicht Alles erklären, so hochmüthig sie sich auch geberden. Sind doch mir selbst schon Vorkommnisse begegnet, die unerklärbar sind; sieht denn unser geistiges Auge so viel weiter als unser leibliches? Ich meine immer: so gut ich nicht Alles sehen kann, so wenig kann ich Alles fassen; des Menschen Sinn ist eben doch auch beschränkt!

 

Den 19. 11.

Da ich mich seit längerer Zeit mit Ordnen und testamentarischen Verfügungen beschäftige, kommen mir manchmal doch recht ernste Gedanken. Man hat so unendlich viele Gegenstände, an welche sich Ereignisse, Erinnerungen und Beziehungen knüpfen, die Einem theuer und werth, Andern aber ganz bedeutungslos sind. Was ist z. B. das Schicksal dieses oder jenes Buches oder Musikstückes? Vielleicht liegt es in drei Jahren auf irgendeinem Antiquar- oder Tändelmarkt. Ich selbst habe an solchen Orten früher schon merkwürdige Dinge gefunden. Meine Autographe vermache ich der Kgl. Hof- und Staatsbibliothek; die werthvollen gedruckten Partituren der Kgl. Akademie der Tonkunst. Die zwei werthvollsten Bilder von Sassoferato und Rigaud kommen in die alte Pinakothek[2]. Schwer fällt mir aufs Herz die stattliche Reihe von Bänden der Tagebücher Fanny's zu vernichten - ich schiebe es immer hinaus, einmal den Anfang zu machen. Doch, da komme ich wieder ganz von selbst in die melancholische Tonart, die ich meiner theuren Freundin ersparen sollte. Nicht? Sie haben wiederholt geschrieben, Sie möchten wissen wie Das oder Jenes sich in der Zukunft gestalte; ich hingegen will es lieber preisen, dass uns das Zukünftige verborgen bleibt. Man erlebt so krasse Dinge. Über mir wohnt ein Professor (Arzt) mit Frau und einem dreiundzwanzigjährigen, studierenden Sohn in den glücklichsten Verhältnissen. Vor 14 Tagen erschoss sich der Letztere um Mitternacht (direkt über meinem Schlafzimmer), Niemand weiss warum. Das ganze Lebensglück der bedauernswerthen Eltern ist nun zerstört. -

Wie hat Ihnen die Episode Scherzer gefallen? Er hat noch Vieles ähnliche geliefert und dadurch seine Frau oft in Verlegenheit gebracht. Sie war eine sehr tüchtige Malerin. Das sind übrigens Erinnerungen von vor mehr als 40 Jahren. Im Jahr 1859 hatte ich am Konservatorium eine Klavierklasse; die jetzt so gefeierte Pianistin Sophie Menter war (damals 13jährig) meine Schülerin. Sie war ebenso schön wie talentvoll als eigensinnig; ich studierte ihr ein Mozart'sches Clavierkonzert ein, das dann Scherzer zu dirigieren hatte. Nach der ersten Probe kam er ganz begeistert zu mir und sagte: "Kollege, das Sopherl ist der reinste Engel!" "Ja", sagte ich trocken, "aber mit Krallen!" Nach einigen Tagen sagte er: "Sie haben Recht, die Menter ist der reinste Satan!" Er liebte eben starke Ausdrücke. -

 

20. 11.

Als ich heute von der Akademie nach Hause kam, fand ich Ihr Postkärtchen, das ich nicht beantworte, weil (sich kreuzend) inzwischen der erwartete Brief eingetroffen sein wird. Ich bitte Sie, meine theure Freundin, sich ja nicht zu ängstigen für den Fall ein od. das anderemal ein Brief um ein paar Tage später als erwartet eintritt. Nicht wahr? Das Kärtchen hebe ich mir auch auf als Zeichen Ihrer lieben Sorge. Um mein Plauderstündchen ist's jetzt häufig geschehen, da ich viel "lange" Besuche erhalte - so gestern wie heute; dabei soll ich meine Respirationsorgane schonen. Da war nun eben ein mir noch fremder Italiener da; nach einer halben Stunde waren wir schon, als wenn wir uns seit Jahren gekannt hätten, es ist doch eine lebhafte, höchst begabte Nation; wozu ein Deutscher sieben Schritte braucht, macht es der Italiener mit einem Schritt ab; dazu diese Grazie und Feinfühligkeit! Wir lachten und schrien, dass ich jetzt stockheiser bin. Jetzt kommt noch meine besorgte Dienerin und plagt mich mit ihren Hausmitteln, Tränkchen und Eibisch-Thee, die alle ganz gewiss helfen. Sodann habe ich Unterredung mit Freund Blüthner; und inzwischen stelle ich mir vor, dass Sie meinen letzten Brief nun gelesen haben werden.

 

21. 11.

Frl. Emmy R. schreibt mir hie und da per Ansichtspostkarte, die ich dann in ähnlicher Weise erwidere. So erhielt ich aus Naumburg von ihr Nachricht über ein Kirchenkonzert. Ich antwortete, schrieb aber in Gedanken eine falsche, mir geläufigere Adresse, wodurch die Karte nicht in die Friedrich-Wilhelmstr. 20, sondern nur in deren Nähe gekommen wäre. Glücklicherweise bemerkte ich meine Irrung gerade noch rechtzeitig. Ausser einiger Verwunderung hätte es übrigens keinen Schaden verursacht.

 

22. 11.

Heute traf ich zufällig Greif, den ich fast seit 2 Jahren nicht gesehen im Kaffeehaus. Sein Auge leuchtete vor Freude, als ich ihm von der neu gewonnenen Verehrerin seiner Muse sprach. Es ist oft so leicht, einem guten Menschen eine verdiente, wahre Freude zu machen - und wie oft ist man nur zu bequem dazu. - Immer wieder komme ich auf meine Bitte zurück, Sie möchten unseres brieflichen Verkehrs wegen ja nicht Ihre häuslichen Arbeiten und Geschäfte zurücksetzen; es wäre mir dies ein höchst peinlicher Gedanke. Bitte mich darüber freundlichst beruhigen zu wollen - lieber warte ich ein paar Tage länger auf Ihre mir so lieben Briefe!

 

23. 11.

Theuerste Freundin!

Ihr sehnlich erwarteter Brief ist eingetroffen; er ist liebenswürdig, wie von Ihnen zu erwarten - aber er enthält eine Stelle die mich recht beunruhigt: "aber wenn ich nun doch einen Wunsch hätte, der dem Ihren ganz zuwiderlief... Es kommt, so wie wir's denken, ja gewiss nicht." - Warum sprechen Sie so rätselhaft, dass ich meinen armen Kopf bis zu Ihrem nächsten Brief zerbrechen muss! Meine dumme Fantasie ist gleich so lebhaft!

Heute habe ich wieder einen sehr lieben Bekannten verloren: den berühmten Maler Prof. Anton Seitz (genannt der deutsche Meissonier); er fiel über eine Treppe und verletzte sich tödtlich. Tags zuvor begegnete ich ihm und freute mich über den Humor und die Gesundheit des alten Männchens; auch seine Frau stimmte heiter in die Scherze ein, und nun -! Ich sende diese Zeilen etwas früher als beabsichtigt fort, nur damit Sie mir den bösen Novembernebel zerstreuen. Sie können es ja mit ein paar Worten in einem Billetchen; bitte! Ach, es ist jetzt eine so melancholische Zeit, das liegt zum Theil auch am Wetter und an den so kurzen Tagen - an meinen gereizten, empfindlichen Nerven, an Erinnerungen, an der Unsicherheit der Zukunft, an der zeitweiligen Furcht, es könnte mich das Schicksal Fanny's auch ereilen und dergleichen Trübheiten mehr. - Sie glaubten dass mir am Ende der "Zwetschgenkuchen" König's lieber als die "Vergissmeinnicht" gewesen wäre! Für so grausam hätte ich meine hohe Gebieterin denn doch nicht gehalten! - Hat Frau von Holstein auch Briefe von mir in ihr Buch aufgenommen?[3] Ich hatte sie doch dringend gebeten, es zu unterlassen. Sie werden erstaunt sein, diesen Brief jetzt schon zu erhalten, - aber - es mir auch entschuldigen!

Sie sollen mehr heitere Lektüre lesen (z. B. Münchhausen von Immermann), nicht so selbstmörderische Briefe, wie die Kleist's! Alles, was Sie lesen wirkt noch zu tief auf Sie ein!, deswegen ist es nicht ganz gleichgültig, was Sie lesen! Nun, nennen Sie mich einen Brummbären, mir gleich, Sie wissen doch, wie viel Sie demselben sind!

Und nun Gott befohlen!
Ihr alter Freund und Verehrer und treuer Korrespondent

J. Rh.

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[1] Verzeichnis meiner in Druck erschienenen Werke = bis op.194.

[2] kommen in die alte Pinakothek = s.S. 65/ Z 31.

[3] in ihr Buch aufgenommen =Hedwig von Holstein «Eine Glückliche / In ihren Briefen und Tagebuchblätter» Leipzig 1901.