Rheinberger über seinen schlechten Gesundheitszustand (heftiges Herzklopfen), griechische Mythologie...


München 8. 11. 00.

(Vor ich Ihren Brief erhalten)

Meine theure Freundin!

Sie werden sich über meinen unerwarteten Brief vom Dienstag, den 6. November, gewundert (geärgert?) haben. Aber was konnte ich anders machen? Ich hatte einen ernsten beängstigenden Anfall von Herzklopfen - und im Falle einer heftigeren Erkrankung hätte ich Ihre Briefe unbeantwortet lassen müssen, was wiederum Sie geängstigt hätte, indem ich ja Niemand habe, den ich mit Schreiben an Sie beauftragen könnte. In Hast und Aufregung beendigte ich den für später beabsichtigten Brief, damit Sie für alle Fälle sich mein etwaiges Stillschweigen erklären könnten. Gottlob ging es noch ziemlich gut ab. Sie sind in Ihren Briefen so unaussprechlich gut gegen mich, voll Zartsinn schonen Sie mein Gemüth, vermeiden Sie jedes Wort, von dem Sie glauben können, dass es mich hart treffe. Glauben Sie mir: ich kann sehr gut zwischen den Zeilen lesen; für diejenigen, welche man liebt, hat man ein leises Verständniss! Eigenthümlich: durch Sie bin ich erst so recht zu dem Genuss der Dichtungen meines armen, lieben, genialen Greif gekommen - was ist das für eine edle, fein empfindende Seele! Aber auch wie schön und feinfühlig drücken Sie in Ihrem lieben, bösen, letzten Brief den Entschluss aus, mir auch im Falle einer Veränderung Ihre Freundschaft unverändert zu erhalten. Allein ich bin so bescheiden, nicht das Unmögliche zu beanspruchen. Die Ehe bringt eine totale Umgestaltung aller Verhältnisse mit sich - Sie kennen ja die Ehe nicht, wohl aber ich. Wenn Sie den Bund für's Leben geschlossen, treten nicht allein alle Freunde, sogar die Eltern weit zurück. Es ist dies natürlich und muss so sein - ich wäre in diesem Falle auch ein Othello; danken Sie dem Himmel, dass ich nicht dreissig Jahre jünger bin! Doch Scherz beiseite: lassen Sie mir mein Plätzchen so lange es eben möglich ist - damit bin ich zufrieden - in meiner Erinnerung werden Sie auch immer fortleben, wenn wir uns auch nie mehr persönlich begegnen werden. Doch besser nicht gar zu viel an die Zukunft denken, die ja unberechenbar ist; immerhin benützte ich die passende Stimmung, um auch das Meinige zu ordnen, was ziemlich viel zu thun gab u. gibt - deswegen braucht das Finale noch nicht zu beginnen!

Meine verehrteste Freundin! Ihr Zweifel, ob es schliesslich Aufgabe der Kunst sei, zu beruhigen und zu veredeln oder aufzuregen ist ja schon in der lieblichen griechischen Mythe vom Orpheus, der die wilden Bestien mit seinem Flötenspiel zähmte, gelöst; umgekehrt hat schon manch moderne Musik mich zahmen Menschen aufgeregt und "wild" gemacht. Das grosse Publikum zieht aber unter allen Umständen Aufregung vor und empfindet dieselbe als "Kunstgenuss"! Ich hörte einen Sänger, der bei Klavierbegleitung geisterhaft flüsterte, dann einen hochdramatischen Schrei ausstiess, deklamierte, stöhnte und ein paar Noten mit hohler Stimme sang. Ich wurde belehrt (ich lass mich nämlich gern belehren), dass diese neue Vortragsart "Sprechgesang", die höchste Stufe des Gesanges sei; das Publikum raste vor Entzücken. - Vor 12-15 Jahren war in hiesiger Glaspalastkunstausstellung ein riesiges, mit enormster Technik gemaltes Bild ("Die Glocken von Huescar") von einem spanischen Maler, dessen Name mir entfallen, ausgestellt. Es zeigt eine Versammlung eingeladener, vornehmer Gäste, Vasallen irgend eines kastilianischen Königs vor, in einem geschlossenen Hofraum. Auf ein Glockenzeichen beginnen die Henker die Blutarbeit an den wehrlos Überlisteten - die Köpfe der Enthaupteten lagen zu einem Dutzend herum, und der verrätherische König schaute grinsend von einer Galerie herunter. So ein Sujet (es soll historisch sein) ist aber auch der Mühe werth und der Erfolg des Spaniers war geradezu ein ungeheurer; man drängte sich vor dem Gemälde, sprach von keinem anderen mehr; Alles war aufgeregt - ich sagte zu Fanny: "Nur ein Stiergefecht oder ein Gladiatorenkampf könnte diesen Kunstgenuss noch steigern, die Gefühle des Publikums wären dieselben, nur noch erhöht!" Der Appetit zum Mittagessen war mir vergangen. Mit der Plastik ist's auch ähnlicher Art mit dem Erfolg. Da können Mozart und Rafael freilich nicht konkurrieren und müssen sich bescheiden verkriechen.

 

8. 11. Mittags.

Endlich der in Schmerzen ersehnte Brief! Meinen Dank in Kürze werden Sie schon erhalten haben - ich küsse in Gedanken die wohlthätige Hand, die mir berichtete, dass Sie gebetet haben - Sie sind also doch nicht in dem krassen religiösen Unglauben befangen, den Ihr voriger Brief verrieth und der mich (bei Ihrer Jugend!) geradezu unglücklich gemacht hätte! - Wegen des Anfalls, der Samstag Abend allerdings heftig war, seien Sie ruhig: Sie sind nicht schuld daran, das datiert von früher und hat seinen tieftraurigen Grund, der mir manchmal schon die Sehnsucht zu sterben eingab. Doch drückt mich keine Schuld. Dass Ihr lieber, böser Brief meine Unruhe noch verschärfte, war ja eben nur ein schlimmer Zufall und Sie haben es wahrscheinlich unbedacht niedergeschrieben. Da meine Nächte ohne dem schlaflos sind, ging es in Einem hin. Es war zart von Ihnen, mir das Gartenbildchen zu senden: herzlichsten Dank; aber auch Ihr früheres Bild, dass ich so sehr liebe, kann ich wieder ohne Trauer ansehen, was durch vier Tage nicht der Fall war; und somit wollen wir wiederum "treue Kameraden" sein in Leid und Freud, nach Aussen so ungleich, im Innern von verwandter Gesinnung. Ihr Brief von gestern hat mich tief bewegt; ich musste ihn öfter lesen. Seien Sie nur etwas wählerischer in Ihrer Lektüre; Bücher philosophischer, grüblerischer, pessimistischer Natur sind Gift für Ihren ebenso tiefen, wie unerfahrenen Geist.

Mit 19 Jahren nimmt man noch Vieles, das blendend geschrieben und - wissenschaftlich Mode ist, für baare Münze, was man mit 25 Jahren schon als hohl und schief erkennt. Ich spreche aus Erfahrung, habe in der Jugend Alles gelesen, Gutes, und leider auch viel Schlechtes, war seit meinem zehnten Jahre[1] nur mehr unter Fremden - und wenn ich mit Genugthuung sagen kann, dass es ein halbes Wunder war, dass ich unverdorben blieb, wo die meisten meiner Altersgenossen zu Grunde gingen, so habe ich das der religiösen Erziehung meines ungewöhnlich strengen Vaters zu verdanken; ich bin ihm im Grabe noch dankbar dafür. Ich schreibe Ihnen, so oft von Religion die Rede ist, nicht vom katholischen, sondern einfach vom christlichen Standpunkte aus. Mit Völderndorff, der ohne Vorurtheil gegen den Katholizismus war (was leider selten ist), unterhielt ich mich gerne über dergleichen; er liess sogar alle Jahre am Sterbetag seiner katholischen Frau in Kreuth eine Messe lesen und wohnte dem Gottesdienst andächtig bei; meine kleine Neckerei darüber nahm er sehr freundlich auf. - Apropos Völderndorff: wenn er über Ihren Panegyrikus der edlen Juden seinen Kopf geschüttelt und lächelnd: "0 Jettele!" gerufen hätte, so würde ich mit eingestimmt haben - auf diesem Felde wäre die grössere Menschenkenntniss und Erfahrung unseres Freundes Ihnen wohl etwas überlegen, ohne Ihrem guten Herzen zu nahe zu treten. - Ihr gutes Herz ist auch so nachsichtig gegen meine Ideen und Ansichten, die gar keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit machen; aber in Beziehung auf allgemeine Kenntniss der Menschen müssen Sie bedenken um wie viel ich älter bin, vermöge meiner Stellung mit Leuten aller Art in beständiger Berührung - ich sehe dieselben genau an und darf wohl sagen, dass es schwer ist, mir etwas weis zu machen. -

Sie sagen, dass Sie manchmal nicht begreifen, wie unser Verkehr so geworden: wer kam im August 1899 in Kreuth auf der Terrasse zu mir, scheinbar um Abschied zu nehmen, wer stieg bei dieser Gelegenheit (ohne lang zu fragen) in mein Herz - wer macht sich seit dieser Zeit breit darin, wer wird hoffentlich immer darin wohnen bleiben?

Da ist wohl am Ende die Anwort schwer? Sollte gar ich schuld sein? Ach! ich hätte auch noch so Vieles zu schreiben und zu fragen; ich gestehe, Ihrem heutigen Briefe habe ich mit einer gewissen Angst entgegen gesehen - es hing so viel davon ab! Gott sei Dank, dass ich Ihren ferneren Briefen, die ich immer mit Sehnsucht erwarte, mit ungetrübter Freude entgegentreten kann - möge es immer so bleiben - an mir soll es nicht fehlen! Einen neuen Bogen kann ich heute nicht mehr anfangen, da diese Zeilen möglichst bald in Ihre Hände kommen sollen. Ich war heut (in Erwartung Ihres Briefes) in der Früh von 8-10 an der Akademie mit meinen Schülern so bös und ungeduldig, dass sie mich oft verwundert anschauten - die Morgigen sollen es besser haben! Und nun leben Sie wohl, meine theuerste Freundin, verzeihen Sie grossmüthig, wenn ich Sie mit irgend einem Worte gekränkt habe - Ihre schönen lieben Schlussworte unterschreibe ich auch

als Ihr treuer Verehrer und Freund
Jos. Rheinberger

M. d. 8. 11. 00.

Ich freue mich für Sie, dass es Ihrem Patienten besser geht.

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[1] seit meinem zehnten Jahre = Rheinberger kam im Alter von zehn Jahren zu ersten Musikstudien nach Feldkirch (Vorarlberg), und 1851 trat er mit zwölf Jahren in das Hausersche Konservatorium in München ein.