Rheinberger u.A. über seinen Berufsalltag, Zwetschgenkuchen, Musik, Sehnsucht etc.


München, den 8. 10.00.

Meine theure Freundin!

Sie frugen in Ihrem letzten Briefe, ob meine Berufsthätigkeit, die ich gerade nicht als besonders poetisch bezeichnete, denn gar so prosaisch sei? Das nun eben nicht, soweit es Unterricht ist, dem täglich die Stunden von 8-10 gewidmet sind. Sodann gibt es noch Sitzungen, Korrekturen, Gutachten, Prüfungen, die wohl nicht zu den begeisternden Arbeiten gerechnet werden können. (Als ich nebenbei noch Hofkapellmeister war 1877-94, da hatte ich es natürlich viel strenger; ich musste die Kirchenmusik bei Hoffestlichkeiten u. an den Feiertagen während des Kirchenjahres von November bis Juli leiten). Vielleicht ist mir dergleichen gesund, da ich von jung auf einen fast unheimlichen Hang zu poetischer Träumerei gehabt habe, der aber durch die dura necessitas korrigiert wurde. Und heutzutage noch (d. h. wenn ich Zeit dazu habe, wie in Kreuth) ist es eine Lieblingsbeschäftigung von mir, über ein paar Gedanken stundenlang hinzudämmern. Sie sagten: das Kochen und Backen sei zwar auch prosaisch, aber man könne dabei doch denken. Wenn der Haushaltungsgeist über meine Frau kam, galt ich plötzlich gar nichts mehr; z. B. beim Aufmachen der Vorhänge, Ordnen der Wäscheschränke, Zurichten für Gäste, Nähen und Schneidern, Kofferpacken war ich überall im Wege. Da gab es keine "Poesie und Kunst" bis die Ordnung hergestellt und Alles wieder im Geleise war; so ein Gewitter dauerte nie lange an. Bei Ihrer obigen Bemerkung fiel mir Herr Oberl. K. ein, dem Sie den Abschied am 11. August durch einen grossen Zwetschgenkuchen versüssten; ob Sie nun denselben selbst gebacken oder nicht, die Begeisterung des Empfängers für die süsse Gabe war echt. - Vom Zwetschgenkuchen komme ich auf - Berlioz. Es freut mich, dass sein Harold Ihnen nicht gefiel. Sogar Richard Wagner sagte mir (1867), er könne Berlioz nicht ausstehen: so oft derselbe ein ernstes Gesicht machen wolle, werde doch nur eine Fratze daraus. Schon manchen Wagnerianer habe ich durch Mittheilung dieses Bonmot's geärgert. Berlioz Musik hat keine Spur von dem, was wir "Gemüth" nennen, (hat ja die französische Sprache gar kein Wort hiefür!) - man kann seine erfinderische Raffiniertheit bewundern, aber das Herz vibriert nicht dabei; es ist eben doch "Verstandesmusik". An den musikalischen Schöpfungen soll nach meiner Ansicht Kopf und Herz (Verstand und Gefühl) gleichen Antheil haben. Der Kopf kann und muss lernen, das, was das Herz besitzt, an den Tag zu bringen; wenn das Herz aber keinen Fonds (d. h. Melodie) besitzt, tritt die absolute Kopfarbeit an die Stelle, und kann unter Umständen zeitweise über jenen Mangel hinwegtäuschen; das ist so häufig bei unseren modernen Komponisten der Fall d. h. sie entwerfen ein Programm, mit dessen Hilfe die Phantasie des Hörers beschäftigt werden soll. Das ist ein ganz falsches Prinzip unserer Kunst!

Meine verehrteste Freundin, Sie sehen, ohne ein bischen Musik geht es in keinem Briefe ab, doch werde ich keinen Missbrauch damit treiben; zudem haben Sie mir die Erlaubnis dazu gegeben, wofür ich Ihnen die Hand küsse. Aber noch ein paar Zeilen möchte ich Ihrem musikalischen Vetter widmen. Er hat ganz Recht, wenn auch mit schwerem Herzen sich einen lohnenden Beruf zu wählen. Bei dem Alter eines Primaners muss die Technik des betreffenden Instrumentes wo möglich schon fertig sein, und das will viel heissen - aber noch bedeutend schwerer ist es, bei der heutigen Riesenkonkurenz sich so hervorzuthun, dass man Anwartschaft auf eine Stellung hat; und dann wie wenig lohnend sind die meisten Stellungen! wie leicht verfliegt der Enthusiasmus für die Kunst, wenn dieselbe zum Erwerbe dienen muss! - Was anderes ist es, wenn man sich als Vollblutmusiker fühlt und sterbensunglücklich wäre, diesem Drange nicht Alles unterordnen zu können. Da mag man es in Gottesnamen wagen. Es that mir schon oft weh, bei so vielen jungen Leuten als ehrlicher Mann Illusionen zu zerstören, aber auch Manche haben es mir später gedankt. - Fünfundzwanzig Postansichtskarten habe ich mir heute holen lassen, von denen Sie aber keine bekommen, obwohl Sie indirekt dieselben mit verschuldet haben. Mit zehn Worten und einem hübschen Bilde unter Umständen eine drückende Briefschuld abzumachen, das ist gar bequem und dann sind Einem noch viele Leute dafür dankbar! Wie viel edler sind Sie, meine verehrte Freundin, indem Sie ein grösseres Briefformat vorgenommen und nun auch etwas kleinere Buchstaben schreiben - dafür bin ich dankbar. Und wenn ich Ihnen fast in jedem Briefe die Versicherung gebe, dass Ihre lieben Zeilen mich so hoch erfreuen, so müssen Sie es auch in diesem wieder hören. - Gestern fand ich beim Durchstöbern eines vergessenen Schrankes ein Paquet Briefe meiner Frau, die aus dem Jahre 1868 aus Wildbad[1], wohin sie der Arzt zur Rekonvaleszenz eines Gliederrheumatismus geschickt hatte, datiert sind. Die Durchlesung dieser 28 Tag für Tag geschriebenen Briefe hat mich tief ergriffen: nur ein goldenes Frauenherz kann solcher Liebe fähig sein und diese Worte der Sehnsucht finden, wie ich sie hier gelesen. Das war nun Alles so fern, und ich kam mir selber als längst gestorben vor - dann zogen verblasste Bilder in frisch gewordenen Farben vorüber, und ich hörte den süssen Klang der seit Jahren verstummten Stimme; der manchmal scherzhafte, ja fröhliche Ton schnitt mir tief in's Herz, wenn ich der unsäglichen Schmerzen, leiblichen und seelischen Qualen der letzten 16 Monate dieses edlen Lebens gedachte. Wie weise und gütig ist es von Gott eingerichtet, dass dem Menschen seine Zukunft durch einen dunklen Schleier verhüllt bleibt - er würde sonst sich keines frohen Augenblicks mehr erfreuen. Auch in den Jahren 1878 u. 88 musste sie aus demselben Grunde Wildbad aufsuchen und die täglichen Briefe jener Zeit athmen die gleiche Stimmung aus - vielleicht etwas ernster und noch vertiefter. Eigentlich sollte ich Ihnen, meine theure Freundin, nicht so trübe Remiszenzen mittheilen; ich thäte es auch nicht, wenn Sie mir nicht seelisch so nahe stünden und ich es nicht wohlthätig empfände, mich aussprechen zu können. - Sie schreiben: ... "die Unzufriedenheit steckt mir zu tief im Blut" - nachdem Sie kurz zuvor gesagt, dass es Ihnen eigentlich immer gut gegangen sei. Vielleicht ist daran nur pessimistische Lektüre schuld, die heutzutage überall und auf jedem Gebiet der Wissenschaft, der Religion, der Kunst, der sozialen Stellung, unterwühlend, zerstörend, Unfrieden stiftend sich geltend macht. Wenn dergleichen mit blendendem Styl, allen Leidenschaften schmeichelnd vorgetragen wird, so ist die Gefahr der Zerstörung bei lebhaften, phantasievollen Gemüthern gross; ich habe hier beklagenswerthe Beispiele gesehen! Das Grundübel ist: die Schriftsteller wollen vor Allem und um jeden Preis Aufsehen machen und gehen mit der grössten Gewissenlosigkeit in diesem Geleise voran; so hat z. B. Schopenhauer viele seiner Leser und Leserinnen (wie ich ganz bestimmt weiss) geradezu vergiftet. Es wäre mir unendlich leid, wenn Sie sich irre machen liessen. Mir hat in den schwersten Stunden, deren nicht wenige waren, Religion immer, Philosophie niemals Trost und Halt gegeben. Meine theure Freundin, ich habe mir jedes dieser Worte überlegt, bevor ich es niedergeschrieben!

 

(den 11. 10)

Es sind nun zwei Monate verflossen, seit ich Sie zuletzt gesehen, als Sie der Wagen nach Tirol entführte; ich sehe Sie noch im Reisekleid, rechts eine rothe Blume im Gürtel. Und doch ist es mir, als ob fast ein Jahr dahin sei. Kommt mir nun die Zeit so lang vor, so bin ich Ihnen um so dankbarer für den regen brieflichen Verkehr. Abgesehen aber von meinen Berufsgeschäften war ich bisher wenig produktiv; dazu muss man innerlich vollständig beruhigt und klar sein, d. h. Kopf und Herz im Einklang haben, während bei mir der Kopf im Süden und das Herz im Norden ist. Sodann muss ich gesundheitshalber mehr spazieren gehen, als ich gewohnt bin; das Wetter ist auch anhaltend herrlich - geradezu italienisch. Ferner nimmt mich Freund Blüthner[2] sehr in Anspruch, da ich in den letzten Jahren das Klavierspiel arg vernachlässigte. Wenn Sie aber aus all dem schliessen, dass meine Briefe dafür kürzer ausfallen würden, so sind Sie doch im Irrthum. Übrigens glaube ich nun alle rückständigen Fragen beantwortet oder wenigstens berührt zu haben, oder nicht? gar Manches, was man sagen wollte, nimmt sich geschrieben schwerfällig aus, während in der Konversation "der Ton den Gesang macht!" Nun haben wir in der Musik allerdings eine Menge Vortragszeichen, die sich aber in Briefen wohl sonderbar ausnehmen würden; vielleicht wird das eine der Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts werden! - In Kreuth soll es gegenwärtig in Folge der herbstlich gefärbten Wälder wunderschön sein - am schönsten wohl das kleine Herzogswäldchen! Aber wenn ich all' die Jagdrohheiten mitansehen müsste, möchte ich nicht dort sein. Hr. Oberl. K. ist noch oben; ihm mag ich den herrlichen Herbst gönnen. -

 

den 12. 10.00.

Meine theure Freudin! Der liebenswürdige Brief, den Sie mir heute zugesendet, hat mir auf's neue die schönen Sommertage vorgezaubert, wo ich doch täglich das Glück Sie zu sehen, wenn auch selten Sie zu sprechen, hatte; für das Letztere muss nun freilich der briefliche Verkehr eintreten, für den ich Ihnen so dankbar bin; hatte ich doch in Kreuth noch keine Ahnung, dass mir diese Freude erblühen werde. Was mir das Leben auch noch bringen mag, - Ihre Briefe sollen mir immer ein theurer Schatz sein. Für die Ansicht Ihres Hauses und die Bezeichnung Ihres Wohnraumes noch meinen speziellen Dank! - Die Rembrandt-Ausstellung (wohl dieselbe) hatten wir vor zwei Jahren hier - ich theile Ihr Entzücken darüber ebenfalls. Grimm's Michelangelo kenne ich recht gut. Wenn man in Florenz ist, wird man den Mann so wenig los, wie in Mailand den Lionardo, Manzoni und Carl Borromeo; das ist die Signatur dieser Männergrössen, dass sie mit der Stätte ihrer Wirksamkeit so verwachsen sind, dass man sie von derselben nicht mehr trennen kann. Wer kann z. B. in der reizenden Stadt Salzburg sich einen Tag aufhalten, ohne den liebenswürdigsten und grössten Tondichter aller Zeiten, Mozart, vor sich zu sehen - (Als Kind sagte ich einmal: "Wenn ich in den Himmel komme, suche ich zuerst den Mozart auf.") Die Studien von Treitschke[3] kenne ich nicht, wohl aber Historisches von ihm; trotz seiner zum Theil blendenden Eigenschaften ist mir der Mann nicht sympathisch. - Ihre Bemerkungen über Kunst und deren Studium sind gewiss sehr richtig, das Wahre ist (wie Sie es in Paris hielten) ein längerer, ruhiger Aufenthalt; das Abhetzen von Sehenswürdigkeiten hat nicht viel Werth. - Auch in dem heutigen Briefe beklagen Sie sich über Anwandlungen von Unzufriedenheit. Machen Sie es wie ich - wenn ich unzufrieden bin (was ja leider auch vorkommt) so sage ich mir: "Danke Gott, dass du wenigstens keine materiellen Sorgen hast - dass du die Mittel besitzest, dir die Erfüllung eines jeden vernünftigen Wunsches zu gewähren - dass du im Stande bist, diesem oder jenem Mitmenschen eine Freude zu machen - bedenke, dass es so viele Menschen gibt, die in deiner gesellschaftlichen Stellung sich glücklich däuchten" - und Sie sind noch in der beneidenswerthen Lage, sich der blühendsten, jugendlichen Gesundheit zu erfreuen! Also weg mit der bösen Unzufriedenheit! Ach, es wäre mir ein Genuss, Sie einmal so recht auszuzanken, aber brieflich geht es nicht - es fehlt eben der Ton, qui fait la musique. (Ich habe die Empfindung, dass Sie dies Alles sehr altmodisch anmuthet, aber ernst und gut gemeint ist's ja doch!) - Eingangs des Briefes haben Sie mich durch den Vorwurf meiner Blindheit fast erschreckt, denn das hat mir noch Niemand gesagt; wohl aber, dass ich nur zu gut sehe. Wie soll ich Fehler entdecken, wo gewiss keine sind - darf ich Ihnen denn nicht sagen, was mir an Ihnen am besten gefällt? ich glaube es schon einmal geschrieben zu haben, dass Sie mir zu hoch stehen, als das ich Ihnen anderes als Wahrheit widmete. Was Einem theuer ist, mag man eben gern möglichst vollkommen wissen, und hält an diesem Glauben fest so lange, bis man vom Gegentheil überzeugt wird; dann allerdings empfindet man den Verlust des Ideals tief und schmerzlich. - Das kleine Lied: "Es fiel ein Reif" wird angekommen sein, und bittet dasselbe um freundliche Aufnahme; die grosse Einfachheit desselben ist natürlich bedingt durch den angestrebten Charakter eines Volksliedes.

Seit heute haben wir kalten Herbst und ist der Sommer mit seinem Zauber leider zu Ende; und leider wird es lange dauern bis der kalte unfreundliche Winter überwunden sein wird. Indem ich unter den Gedichten meines Freundes M. Greif blätterte, fiel mir eines auf, das wie ein Bild des Herzogwäldchens ist; der Raum für dasselbe ist aber nicht mehr da, und so will ich es ein andermal beilegen, ist ja ohnedem dieser Brief von fast unverantwortlicher Länge.

Mit herzlichem Lebewohl verbleibe ich, meine verehrteste Freundin!

M. d. 12. 10. Abends.

Ihr treuergebener
Jos. Rheinberger

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[1] Wildbad = Wildbad Kreuth

[2] Freund Blüthner=Rheinbergers Blüthner-Flügel (vgl. S. 18/Z. 13).

[3] Treitschke = Heinrich Gotthard von Treitschke (1834-1896) Redaktor, Professor für Geschichte u.a. in Berlin, nationalliberaler Abgeordneter im Reichstag. Publikationen: «Vaterländische Gedichte», «Studien» (Gedichte).