Hugo Riemann fragt bei Josef Rheinberger um Rat betreffend einer musikalischen Ausbildung einer jungen Frau.


Bromberg, 30. Januar 1881

 

Hochgeehrter Herr Hofcapellmeister!

Gestatten Sie mir in einer für Betheiligten hochwichtigen und ich hoffe auch für die Kunst interessanten Angelegenheit Ihren Rath einzuholen. Eine junge Dame von 20 Jahren (Tochter des Rittergutsbesitzers Freitag auf Wiesenberg bei Thorn) ist im Besitz einer phaenomenalen Stimme vom kleinen d bis zum dreigestrichenen e - f, hat in der Mittellage aussergewöhnliche Kraft und in der Höhe seltene Weichheit, kurzum - eine Stimme, wie es wenige giebt; dabei ist die Dame musikalisch, hat Gedächtniss etc., so dass zu hoffen stände, dass etwas besonderes aus ihr würde. Dieselbe hat kurze Zeit die Kullak'sche Clavierschule zu Berlin besucht, bis ihre selten umfangreiche Stimme bemerkt wurde und war seitdem 3/4 Jahre Gesangschülerin von Prof. Stockhausen [1] in Frankfurt, der sich für ihre Stimme begeisterte. Leider ist aber nach den Klagen der Dame Stockhausen so nervös, dass er öfter in den Stunden ohnmächtig wird und die Dame hat kein Vertrauen zu seiner Methode (sie behauptet, seit 8 Monaten nur immer denselben Ton singen müssen). Dazu kommt, dass eine Verwandte, bei welcher sie in Frankfurt wohnte, diese Stadt verlässt (ein Major, der versetzt wurde), die Dame ist daher im Begriffe, Frankfurt zu verlassen und sich anderswo ausbilden zu lassen. Die Eltern fragten bei mir nach, ich konnte ihnen aber Leipzig, an das sie dachten, beim besten Willen nicht empfehlen (Sie werden die Verhältnisse zweifellos kennen), ich rieth zu München. Nun möchte ich mir Ihren Rath, hochverehrter Herr Professor, ausbitten, was weiter geschehen soll? Nehmen Sie an, die Stimme wäre wirklich von hervorragender Qualität (ich habe sie nicht gehört), würde dann München der rechte Ort wirklich sein? ich dachte an Herrn Schimon, den ich persönlich kenne - würden Sie unbedenklich dafür sein, ihm ein solches Kleinod anzuvertrauen (ich hoffe, dass es eines ist) ? Seien Sie meiner peinlichsten Discretion versichert, wenn Sie mir darüber etwas mittheilen sollten. Auch Herr Hey genießt ja eines ausgezeichneten Renommées - wen würden Sie vorziehen? Oder rathen Sie statt zu München überhaupt zu einer anderen Stadt? Mir würde München darum erwünscht sein, weil ich dort einige Familienbeziehungen habe, welche eventuell der jungen Dame einen nothwendigen Anhalt geben würden. Sie würden mich zu grösster Dankbarkeit verpflichten, wenn Sie mir einige Worte In der Angelegenheit antworten würden.

Mit vorzüglicher Hochachtung

ganz ergeben

Dr. Hugo Riemann

Bromberg

30.Jan. 1881.

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[1] Julius Stockhausen (1826-1906), Dirigent, hochgeschätzter Sänger (Bariton) und Gesangpädagoge