Robert Franz lobt J. G. Rheinbergers Aufführung von Händels "L'Allegro, il Pensieroso ed il Moderato", dessen Partitur er bearbeitet hat


Brief von Robert Franz an Josef Rheinberger:

 

 

Halle, 27.12.1874

Mein theuerer, hochverehrter Herr !

Nicht beschreiben lässt' sich's, welche Weihnachtsfreude Sie mir mit Ihrem lieben Briefe gemacht haben! Wenn ich Ihnen die Versicherung gebe, dass Sie der Erste unter den vielen Künstlern Deutschlands sind, welcher aus freien Stücken eine meiner Bearbeitungen nicht nur der Beachtung gewürdigt, sondern ihr auch ein offenbares Interesse entgegengebracht hat, so werden Sie obigen Ausruf begreifen. Liefen doch kurz nach seinem Erscheinen über den Allegro von den einflussreichsten Seiten her sehr bedenkliche Referate bei dem Verleger ein, die dem Werke allen künstlerischen Werth absprachen und es für absolut langweilig erklärten. So wenig mich auch dergleichen Phrasen in meinen Überzeugungen beirren konnten, übten sie doch einen sehr nachtheiligen Einfluss auf Handel und Wandel aus, was denn weiter zur Folge hatte, dass mir die Verleger ängstlich aus dem Wege gingen. Allerdings liess sich das Gewandhaus mit Ach und Krach dazu bewegen, den Allegro vor circa 3 Jahren nach meiner Bearbeitung aufzuführen, leider jedoch in einer so castrirten Form, dass diese Leistung der Ausgabe mehr Schaden als Nutzen gebracht hat. Wurde doch, um nur ein Beispiel anzugeben, das zweite Fagott aus sämmtlichen Solonummern geworfen, angeblich im Interesse der Erleichterung des Basses!!! Wie wenig bei derartigen Missgriffen und Rücksichtlosigkeiten von einer den lyrischen Absichten Händel's entsprechenden Wiedergabe die Rede sein konnte, liegt auf der Hand: das Werk ist, unter uns gesagt, damals geradezu todtgegähnt worden. Sie haben es nun wieder lebendig gemacht - dafür sage ich Ihnen aus Herzensgrunde meinen Dank. Ihren tiefen Einsichten in das Wesen der contrapunktisch-polyphonen Schreibart dürfte es schwerlich entgangen sein, dass es keine ganz leichte Aufgabe ist, mit dergleichen strengen Mitteln einen stimmungsvollen Tonsatz herzustellen, dass es sogar seine Schwierigkeiten hat, die gegenwärtigen Orchesterkräfte zu einer ausdrucksvollen Wiedergabe desselben zu bewegen. Daher kann ich mich denn nicht glücklich genug schätzen, in Ihnen einen gesinnungstüchtigen Interpreten solcher Bestrebungen gefunden zu haben. Ganz besonders werthvoll ist mir aber Ihre Ausführung angesichts der hämischen Hetzereien unserer historischen Schule, die doch im Grunde genommen froh sein sollte, wenn man heutzutage überhaupt einer retrospektiven Richtung huldigt, ohne dabei bis auf's Tüpfelchen ihre sogenannten "historisch - correkten Darstellungen" zu beabsichtigen. Natürlich behalten diese ledernen Burschen so lange Recht, als sich unsere Musikdirektoren durch jener Machtspruche einschüchtern lassen. Hoffentlich wird sich das mit der Zeit auch ändern und verspreche ich mir besonders guten Erfolg von einer nächstens erscheinenden Broschüre, welche diese Materie en passant recht gründlich behandelt. Der Titel derselben ist: "Rob. Franz und das deutsche Volks- und Kirchenlied von A. Saran", Leipzig bei F.E.C. Leuckart. In den ersten Abschnitten weist der Autor meine engen Beziehungen zum deutschen Volks- und Kirchenliede nach, im letzten werden die Bearbeitungen besprochen. Dem Text sind 6 altdeutsche Lieder und 6 Choräle in einer Bearbeitung von mir beigegeben, die ein merkwürdiges Licht auf die Vergangenheit, wie auf die Gegenwart werfen. Wenn ich hier Ihre Aufmerksamkeit auf das Buch lenken suche, geschieht es nicht aus eitlen Absichten, sondern nur des höchst interessanten Gegenstandes wegen.

Ihrem Wunsche, Händel's "Acis und Galathea" zu bearbeiten, werde ich leider nicht mehr nachkommen können. Es wird Ihnen wohl nicht unbekannt geblieben sein, dass ich vom Schicksal schwer heimgesucht worden bin. Der Zustand meines Gehörs macht es mir ganz unmöglich, dergleichen Aufgaben jetzt noch mit Aussicht auf Erfolg zu lösen. Das für Bach's und Händel's Vokalwerke herzustellende Accompagnement fordert eine materielle Controlle des Tonsatzes - eine solche ist für mich nicht mehr vorhanden! So viel ich weiss, existirt ja aber von Mozart eine Bearbeitung dieser Idylle - sollte sie Ihnen in München nicht zugänglich sein? Dabei fällt mir ein anderer Vorschlag ein, für dessen Accept ich Ihnen ungemein dankbar sein würde. In Halle bei H. Karmrodt ist nähmlich Händel's Jubilate [1] in einer Bearbeitung von mir erschienen, auf die ich einigen Werth legen darf. Stünde Ihnen bei den Aufführungen des Oratorienvereins eine Orgel zur Verfügung, so kann ich für einen colossalen Effekt bürgen. In Betreffs der Besetzung ist nur für die erste Chornummer ein tüchtig geschulter Contra-Alt notwendig - die später im Ensemble mitwirkenden Tenor und Bass-Soli sind kinderleicht.

Doch muss ich fürch[t]en, Ihnen mit dieser langen Epistel beschwerlich zu fallen. Vielleicht finden Sie sich durch die oben erwähnte Hülflosigkeit meiner Lage veranlasst, die von mir herausgegebenen älteren Tonwerke einer Prüfung zu unterziehen: was zuerst als persönliche Theilnahme gelten könnte, wird sich rasch in eine sachliche verwandeln; die hier gebotenen Stoffe sind ja so wundervoller Art, dass man sich selbst der höchsten Ehren durch deren Verbreitung werth macht.

Mit den herzlichsten Grüssen

Ihr ergebener

Rob. Franz.

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[1] "...Andererseits steht eine 'Bearbeitung', wie sie Robert Franz am Utrechter Jubilate vorgenommen hat, auf derselben Stufe wie Elgars ... 'Retusche' eines Chandos-Anthems; beide haben den Geist des Originals gänzlich missverstanden." (P.H.Lang - "Georg Friedrich Händel", Basel 1979, S. 207)