Brief von Hedwig von Holstein an Franziska Rheinberger:
9.4.1872
Dass Dein lieber Mann so gut war, so mittheilend & zahm, hätte ich ihm kaum zugetraut; ich habe darin seine ganze Freundschaft für uns recht deutlich herausgefüh1t; ich fürchtete, er werde viel zurückhaltender sein. Welche Freude machte uns sein Spiel & sein ganzes liebes Wesen. so Achtung gebietend & gleichzeitig so unbedingtes Vertrauen erweckend. Gott erhalte ihn nur gesund!
Der Geiger Heckmann kam aus Carlsruhe & brachte die Zeitung mit, dass Levi [1] als Capellmeister an's Münchner Hoftheater engagirt sei & jetzt definitiv angenommen habe. Wir wunderten uns sehr darüber, da Levi eine höchst beneidenswerthe Stellung in Carlsruhe hatte & sich dort sehr glücklich fühlte. Wie das mit Wüllner gehen soll, kann ich nicht recht begreifen, Levi so sehr viel jünger & so sehr viel begabter! Er ist einer der geistvollsten Musiker, die wir kennen, erinnert mich sehr an Mendelssohn, obgleich letzterer viel glatter & glänzender war. Es kann wohl sein, dass Ihr Euch nicht mit ihm vertragt, & das sollte mir leid sein, denn wenn man ihn näher kennt, muss man ihn lieb haben. Wir kennen ihn schon als Knaben, als er auf dem Conservatorium war. Er ist natürlich ein ächter Levit, wie sein Name sagt - sein Vater der l4te Rabbiner in directer Abstammung & ohne Unterbrechung der Reihe. -
Er ist durchaus nicht für Wagner, nennt es aber eine Thorheit, die Bedeutung Wagners ableugnen zu wollen, & schimpft nicht auf ihn. Sein Abgott ist Brahms, er halt ihn für die Fortsetzung von Beethoven, so weit das in einem anderen Individuum & in einer neueren Zeit möglich sei. Ausser von Brahms will er von der modernen Musik nichts wissen, glaubt nicht einmal an die Zukunft Schumanns, hält ihn für verderblich für die Jugend, statuirt nur die Classiker für seine Schüler. - Levi ist einer der wenigen Musiker, die ehrlich sind, er ist rücksichtslos & gerade, ohne Façon und vielleicht auch ohne besondre Pietät. Kannst Du Dir ihn nun vorstellen? Schüler & Orchester lieben ihn abgöttisch, er kann alle um den Finger wickeln. Ausser seiner Musik hat er viel Schönheitssinn im Allgemeinen, kauft sich Bilder von Feuerbach & schwärmt für Hölderlin. Basta, ich möchte gern, dass Ihr mit ihm verkehrtet, es fehlt oft nur am guten Willen, dass die Menschen nichts von einander haben, & die Anfänge einer Bekanntschaft sind meistens bestimmend auf die ganze Zeitdauer. Franz will morgen seinen 'Erben', so wie er ist, zum Druck hingeben. Ach, w e n n Dein Mann hier wäre!! In der kurzen Zeit Eures Aufenthaltes wolte ich es ihm nicht zumuthen, die Partitur durchzusehen, & fürchtete auch, uns allen die Stimmung zu verderben. Ich sehe so deutlich, dass Manches in dem lieben Werke anders sein könnte & dass jetzt noch abzuhelfen wäre, wenn Franz eine Autorität als Rathgeber hätte. Partheilichkeit & Neid sind zu gross bei den hiesigen Musikern, & Rietz ist zu faul.-
Gott befohlen. Habt noch tausend Dank Beide!
H/edwig/ v/on/ H/olstein/.
In bezug auf den Erben ist Franz auch ein "Bockerl", nun gerade ändert er keine Note.
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[1] Hermann Levi (1839-1900), Dirigent.