Jos. Rheinberger blödelt über seine Krankheit und ermahnt seinen Bruder, den Pfad der Tugend nicht ohne erfahrenenen Führer (nämlich ihn) zu verlassen. Die Sieben Raben will er bis im Herbst fertig haben.


Brief an seinen Bruder David
30. April 1863, München


Lieber Bruder und Landsmann!

Und es kann geben eine Zeit, wo nicht Alles so ist, wie es sein sollte, ja es ist sogar eine solche Zeit - denn seit etwa acht Tagen bekomme ich statt saftigen Beefsteaks, Lendenbraten, schwellenden Puddings, bajuwarischem Dampfgenudel usw. magere Fleischbrühe und in der Zwischenzeit zur Erholung Schwefel, Spüssglas, Mohnsaft (gelehrter Sulphur; Autim; Laud:etc.) welche mir ein altes freundl. Männchen als Speisezettel skizzirt. Sonderbar, dieses alte Männchen (obschon kgl. Rath) nimmt es gar nicht übel, wenn man die Zunge vor ihm herausreckt - ja, es fordert sogar freundlichst dazu auf. Sogar das Nachtgesch... darf man ihm unter die Nase halten, es kommt desswegen andern Tags doch wieder - ist das nicht eine arge Welt? Da muss man wohl Busse thun und seiner Sünden gedenken, was auch Dir, lieber Bruder und Landsmann! nicht schaden könnte, da mir leider nur zu wohl bekannt ist, mit was für mangelhaftem Schneuzwerk Du behaftet bist!
Nimm Dir ein Exempel an meiner Busse - die berühmte Busse Davids ist gar nichts dagegen. Seit so und soviel Tagen habe ich es über mich genommen, gar nicht auszugehen - ja - lieber legte ich mich am hellen Tag zu Bett beim schönsten Wetter, als dass ich mich von meinen dürren Gebeinern in die sündhafte Welt hinaustragen liess. David schlug gar jammervoll die Harfe und sang dazu (wahrscheinhich hatte er ein weniger verstopftes Schneuzwerk als sein Hr. Namensvetter), ich rührte schon lange kein Klavier mehr an; auch die Wonne meiner süssen Stimme liess ich nicht hören. Seit so und so lange rauche ich nicht mehr; wo lesen wir von König David, dass er zur Zeit seiner Busse nicht geraucht hätte? Also sollst Du daraus ersehen, dass König David, noch dazu in einem Lande, wo ohnedem schon von selbst Milch und Honig fliesst, jedenfalls verhältnissmässig leicht Busse thun konnte - und mehr wollte ich nicht. -

Wenn man so die erste Langeweile des Zimmerhütens überstanden hat und nicht mehr zu sehr leidend ist, so kann man sich an jeder Kleinigkeit amusiren. Da schaue ich zum Fenster hinaus seit früh 6 Uhr einem Homunculus zu, der sich vergebens bemüht, den Seitenpavillon der Schrannenhalle kunstgerecht zu verpinseln - heiliger 'Iook'! was bist Du noch für ein wahrer Michelangelo dagegen - nun werde ich Deine Fresken billiger beurtheilen, Deine 'Bordüren' als wahre Geistesfunken im Gedächtniss behalten - ach! und um das Unglück vollzumachen, rennt ein Schuljunge vorbei, und stösst den Farbentopf um. - O! das war ein Fluch!!
Wenn Du aus meinen gelehrten Zeilen (oder vielmehr zwischen denselben) herausliesest, dass ich vielleicht krank bin, so bist Du sehr im Irrthum, denn ich bin bereits Reconvalescent; meine unfreiwillige Musse kommt von dem Verbot, mich für die nächsten Tage mit Musik zu beschäftigen - daher beschloss ich bei mir, ein Olivenblatt an meinen Bruder und Landsmann nach Vaduz ergehen zu lassen, theils um ihn zu bestärken auf dem Pfad der Tugend, theils um ihn abzumahnen vom Pfade der Untugend, jedoch mit dem Bemerken, dass er letzteren Pfad an der Hand eines erfahrnen Führers, wie etwa ich bin, schon vielleicht zweimal wöchentlich wandeln darf. Kurz, mein Rath geht dahin, er (der Landsmann) möge bis zum Herbst weder in den Leua [1] noch aufs Schloss [2] gehn, dann aber mit mir alle Tage entweder dort oder dahin.
Heute erhielt ich Privat-Nachricht aus Dresden über die Aufführung meines Octetts [3]; es soll gefallen haben. - Im Übrigen geht es bei mir zu wie bei einem grossen Herrn; so viel lästige Krankenvisiten! Halt! mit etwas mehr Humor! Mittags darf ich Deidesheimer trinken, aber leider verdünnt mit 1/2 Wasser. -
Eben hat mich Direct. Hauser um mehr als 2 Stunden gebracht; was der Mann für seine 71 Jahre noch für eine mörderisch kräftige Lunge hat, und einen Schädel!! Aber wenn ich 1800 fl Gehalt hätte, ohne etwas dafür zu thun, so wollte ich auch so gut aussehen!
Heute letzter April und schändliches Wetter dazu! Am ersten schönen Tage darf ich wieder ausgehen. Hoffentlich ist das morgen der Fall. -
An den sieben Raben werde ich von nun an langsamer arbeiten müssen, ich werde desswegen doch fertig bis zum Herbst.
Warum bekomme ich denn keine Liechtenst. Zeitung [4] mehr? Ist euch der Stoff schon ausgegangen?
Fast täglich kommt der Diener des Conservat. sich zu erkundigen, wie es mir gehe; er ist ein sehr schöner, liebenswürdiger Mann, besonders wenn er die Gage bringt, sonst aber ein hässlich Ungethüm.
Ist Hanni-Maxentia wieder zurück in ihr Kloster? Ihr habt wenig von ihr geschrieben.
So, jetzt bin ich müd - wenn mir bis Nachmittag nichts mehr einfällt, so schicke ich diese jämmerlich ungeordnete Epistel des Apostels Josef an die Vaduzer fort, und ihr möget sehen, wie ihr damit fertig werdet. Von Peters Hochzeit hört man nichts - er scheint doch kein feuriger Liebhaber zu sein.
Nun behüte Dich Gott, alter Meister Secretarius!
Nichts für ungut und schreibe bald Deinem Landsmann und Correspondenten
G. J. Rheinberger.

München, 30.4.63.

Grüss mir alle und sie sollen sich meinetwegen ja nicht ängstigen, indem ich ja wieder nahzu gesund bin.!

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[1] Leua = (Gasthof zum) Löwen
[2] Schloss = Bis 1896 diente das Schloss Vaduz u.a. auch als Gastwirtschaft.
[3] Octett.= Octett = Oktett in Es-dur (JWV 132), komponiert in Vaduz im Sommer 1861, umgearbeitet und um eine Flöte erweitert 1884. Es erschien ein Jahr später als Nonett op. 139.

[4] Liechtenst. Zeitung = Am 12. April 1863 wurde durch einen "Verein patriotischgesinnter Manner" erstmals eine "Liechtensteinische Landeszeitung" herausgegeben. Das Blatt erschien "in der Regel monatlich 3mal".