Brief an seinen Bruder David
25. November 1862, München
Lieber Bruder!
Endlich finde ich ein wenig Zeit, Dir auf Deine letzten Zeilen zu antworten, und zwar in Begleitung zweier Winterkappen mit 2 Zoll breiten Ohrenwärmern à 2 fl 24 xer.
Schottische Mützen waren nur in einer englischen Niederlage zu finden, und zwar per Stück einen Dukaten - das war mir zu gentlemenlike und so kaufte ich für euch Deutschmichelwinterschlafmützen. Toni wird sein Leder längst erhalten haben; es wäre nicht nothwendig gewesen von ihm, Dir aufzutragen, mich in Deinem Briefe auszumachen, dass ich ihm dasselbe so lange nicht geschickt, da er mir noch am Tag vor meiner Abreise sagte, er bräuche es vor Weihnachten nicht. -
Ich bin sehr begierig auf weitere Nachrichten von unserm Wahlschlachtplatz [1] - hoffentlich wirst Du mir dieselben nicht vorenthalten.
Wie geht es zu Hause? Heirathet Peter bald? Hast Du nicht etwa auch einen neuen Titel erhalten? Etwa: Geheimer Kanzleioberhämoridarius?
Mir vergeht ein Tag wie der Andere, eine Woche wie die andere, ohne dass ich Zeit finde, an die Vergänglichkeit alles Irdischen zu denken. Es gäbe hier so Vieles zu hören und zu sehen, was Interesse für mich hätte - aber alle meine freie Zeit gehört den '7 Raben'. Hoffentlich kann ich auch bald musikalische Neuigkeiten schreiben - vielleicht auch nicht. -
Über Kaulbach's wundervolles Reformationsbild hätte ich Dir gerne geschrieben, aber ich kam nicht dazu, denn so ein Brief würde Stunden brauchen.
Wie geht es dem lieben Vater? Hoffentlich ist er so wohl, als ich es wünsche. Die Mutter lasse ich grüssen: ich wolle ihr nicht böse sein wegen dem, was Lisi dem Mali über mich letzthin geschrieben.
Den Meister Toni lasse ich extra grüssen, gradweil er wegen der späten Winterkappe ein so saures Gesicht macht. Wenn Peter, den ich grüsse, Zeit findet, so soll er auch mal was von sich hören lassen.
Herrn Landesverweser v. Hausen meine Empfehlung. Wenn ich einmal mehr Zeit finde, will ich Dir mehr schreiben.
Inzwischen mit den herzlichsten Grüssen an Alle
Dein G. J. Rheinberger.
München, 25.11.62.
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[1] Wahlschlachtplatz = Am 26. September 1862 hatte Fürst Johann II. seinem Land eine neue Verfassung gegeben. Kurz darauf fanden die ersten Wahlen für den Landtag (Parlament) statt.