Brief Josef G. Rheinberger an seine Eltern
München, den 30.11.53
Theuerste Eltern!
Überzeugt, dass dieser Brief alle Lieben, hauptsächlich aber Sie, Beste Eltern! im erwünschten Wohlsein treffen werde, ist meine Freude doppelt so gross, wieder einige Zeilen nach Hause zu schicken. Hat meine liebe Schwester Amalia ihr Stück bekommen? Weil sie es nun haben muss, vergisst sie natürlich, an mich zu schreiben.
Nächsten Montag werden die Eleven des Conservatoriums ein kleines Concert veranstalten, bei welchem ich mit meinem Verein auch mitwirken werde.
Nächsten Samstag 8 Tage sollte meine Cantate im Conservatorium aufzuführen probirt werden, wenn ich mit Stimmenabschreiben bis dahin fertig werde; dieses ist sehr langweilig und zeitraubend, indem ich nebenbei 3 Ouverturen von Mozart für Streichquartett arrangiren und mit dem Verein einstudiren muss, nebenbei die Aufgaben nicht versäumen darf, in allen Conservatoriumsensemblen mitwirken muss, dann soll ich noch mein Quartett und meine Klaviersonate endigen und im Auftrag von Hr. Professor Leonhard ein Offertorium componiren: Dieses alles gibt Arbeit bis Weihnachten - wer spielt und singt die Rorate [1] in Vaduz?
Hr. Professor Schafhäutl ist eine Zeit her etwas unpässlich, ich besuch ihn alle 2 Tage und er ist sehr gütig gegen mich; er lässt alle schön grüssen.
Auf die Weihnachtsfeiertage hat mich der Chorregent von St. Michael zum Orgelspielen eingeladen. -
Hr. Salis sagte: General Hess sei ausserordentlich zufrieden gewesen mit den Leistungen der Liechtensteiner; über alle Erwartung (Peter, pass auf! das gilt Dir!). Am Namenstag der lieben Mutter hatten wir zum erstenmale Schnee! Aber jetzt ist das Papier wieder zu klein, ich werde dafür auf Weihnachten schreiben.
Ich verbleibe Ihnen, Theuerste Eltern!
Ihr stets dankbarster
Sohn Joseph Rheinberger
Direktor.
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[1] die Rorate = gesungene Frühmesse in der Adventszeit (nach dem Introitus "Rorate coeli desuper...")