Josef G. Rheinberger erzählt begeistert seinem Bruder von der Kunstausstellung mit Schwind's Rabenmährchen und dem Besuch von Herr Schraml.


Brief Josef G. Rheinberger an seinen Bruder David
27. November 1858, München


Lieber David!
Damit unser, ohnehin sehr flau betriebene Briefwechsel bei der herrschenden Kälte nicht gänzlich eingefriert, entschloss ich mich ganz resolut, den Anfang zu machen, und Euer Hochwohlgeboren mit einem geschriebenen Schreibebrief von meiner Hand zu beglücken.
Zu schreiben weiss ich eigentlich gar nichts. Ich könnte Dir ein Mehreres von der Kunstausstellung erzählen - Du hast aber ohne Zweifel die Kritiken der Allg.Z. darüber gelesen, welche darüber besser urtheilen konnten. Ich kann Dir nur sagen, dass ich lebhaft wünschte, Dich in jenen herrlichen Räumen einführen zu können. Vor Allem aber gefiel mir Schwind's Rabenmährchen am Besten, dann Lessing's Hussitenpredigt.
Doch Kessler wird Dir davon genugsam erzählt haben. Letzthin (13 d.M.) erhielt ich einen unerwarteten Besuch. Abends, (es war schon ziemlich finster) als ich nach Hause kam, stand ein Herr in meinem Zimmer und schaute mich immer an ohne ein Wort zu sagen. Ich fragte, mit wem ich die Ehre hätte, zusammen zu treffen, keine Antwort - ich sah ihn näher an und rief: "Herr Schraml" - er war's!!
Es freute ihn ungemein, dass ich ihn sogleich gekannt - mein Erstaunen kannst Du Dir vorstellen! Er kam von Hermannstadt (wo er gegenwärtig als Finanz-Secretair mit 1200 fl functionirt,) mit seiner Frau, und Kindern nach Innsbruck, wo letztere den Winter hindurch bei seinem Schwiegervater (einem Hr. Ritter von Gruber) verbleiben werden - traf in Innsbruck Hr.Nagiller, und erfuhr durch denselben, dass ich in München sei, worauf er allein nach München kam um mich zu besuchen. Die Marie ist auch in Innsbruck. Sie ist Hr.Schraml's (auch seiner Frau) eigenes Kind, und nicht das seiner Schwester, wie er in Feldkirch vorgab. Seine Mutter ist bei ihm in Hermannstadt, kam aber nicht mit nach Innsbruck herauf. Ausser der Marie hat er noch 3 Kinder. Seine Schwester (Karoline) ist in Pesth verheirathet, soll aber sehr unglücklich sein. Ich war natürlich nicht so indiscret "Warum" zu fragen. Hr.Schraml blieb 1 1/2 Tage hier und ging dann über Würzburg, Dresden, nach Hermannstadt zurück. Dass er Euch alle Millionenmal grüssen lässt, versteht sich von selbst. Das sind meine Neuigkeiten. Ein Andermal mehr!

Du könntest mir wohl schreiben, welchen Eindruck der Tod unseres Fürsten Alois in Liechtenstein [1] wach gerufen, und welche Hoffnungen man von unserm jetzigen Fürsten Johann [2] sich macht. Wie befindet sich unsere junge Realschule? Was treibt Ihr Alle miteinander? Dem Peter hab' ich eine prächtige Kochlerjoppe geschickt. Wagus ist nach Ungarn.
(Jetzt bin ich schläfrig! Es ist 1/2 11.Uhr Nachts) Morgen Sonntag früh 6 Uhr habe ich Rorate, muss also früh aufstehen. Nun Lebewohl! Es grüsst Dich l000mal Dein Bruder

G.J. Rheinberger

27.11.58 (Abgesendet den 5.12.58.)

München.

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[1] ..der Tod unseres Fürsten... = Fürst Alois II. von Liechtenstein starb am 12.November 1858
[2] . . .jetzigen Fürsten Johann... = Nachfolger des verstorbenen Fürsten Alois wurde sein 18-jähriger Sohn Johann II., der 71 Jahre lang (bis 1929) regierte.