Emma Rheinberger an Alois Rheinberger über ihre vorübergehende Heimkehr aus Arosa nach Vaduz, die Anschaffung von Antiquitäten für das „Rote Haus“, einen Unfall in der amerikanischen Verwandtschaft, die Rebenkrankheiten und die Weinernte in Vaduz, die Löhne der Weinbergarbeiter und die Preise der Weine, die Eisenbahnfrage in Liechtenstein, die Fertigstellung einer Villa auf Masescha durch ihren Bruder Egon Rheinberger, den Wiederaufbau der Ruine Gutenberg in Balzers, den Tod von Postmeister Georg Theodor Rheinberger und von dessen Sohn Oscar sowie die Furcht vor dem Aussterben des Rheinberger-Geschlechts in Europa


Handschriftliches Originalschreiben (Fragment) der Emma Rheinberger, Vaduz, an Alois Rheinberger, Nauvoo (Illinois) [1]

02.07.1907, Vaduz

Lieber Herr Vetter!

Herzlichen Gruss
aus der lb., süssen Heimat. Aus der
Heimat wieder – es enthält dies Wort
so viel für mich, eine ganze Fülle von
Wonne. Ich möchte sie festhalten können
meine Heimat u. sie nimmer lassen, fest-
halten meine Lieben, – doch all‘ dem Ver-
langen wird balde genug ein Ende
gemacht werden, – ach der Winter, der
unbarmherzige Winter schon harret er
meiner im Bünderland u. nicht gar
lange mehr dann wird die Emma geheis-
sen das Bündelchen wieder zu schnürren, [2]
wehen Herzens denke ich daran. –

Der 8. Mai brachte mir meine Heimat wie-
der. Wie ein Märchenland erschloss sich
mir, von Arosas ewigem Eis u. Schnee
in den lachenden grünen Frühling Liech-
tensteins hinein. – Meine Lieben empfingen
mich mit rührender Liebe, – 2 Jahre ja
fast hatten wir uns nicht mehr gesehen.
Ein neues, sonniges Zimmerchen hatten sie
mir hergerichtet u. mein Bruder Egon [Rheinberger] es
mit seiner ganzen kunstsinnigen Alter-
tums-Vorliebe ausstaffiert, eine alt imi-
tierte Himmelbettstelle, aus der man unten
eine grosse Schublade ziehen kann, als
Wanddecoration alte Zinnteller, das gan-
ze Zimmerchen urgemütlich, als ob es mir
ein sinniger, lieber Ururgrossvater her-
gerichtet hätte. – Fast am meisten heimel- [3]
te, od. fesselte mich der Tisch alt u. gebrech-
lich, aber doppelt wertvoll für mich, denn
meine Geschwister eröffneten mir, dieser Tisch
stamme von Ihrem selg. Vater [4] [Josef Ferdinand Rheinberger], lieber Herr
Vetter. Mein Bruder hatte ihn vor meiner
Heimkunft auf dem Speicher eines Nach-
barn entdeckt, der ihn nach dem Heim-
gange Ihres lieben Vaters scheints käuflich
übernommen. – Denken Sie sich diese Fü-
gung, diese Überraschung  für mich! Ist
das nicht wundernett? Alle Tage nun er-
innert mich dieser lb. alte Tisch an Sie, an
nie gesehene u. mir doch so liebe, liebe
Menschen. – Als mein Vater [Peter Rheinberger] uns. lb. rotes
Haus kaufte, war [5] begreiflich nichts
mehr, ausser 2 Eckkästen, auf dem Esterich
oben zurückgeblieben, – dieses liebe alten Möbel-
chen der Tisch erscheint mir nun wie ein Gruss noch [6]
aus der Grabes Tiefe von d. geliebten Voran-
gegangenen. –

Doch statt zu danken erst, zu danken
für ein liebes, liebes Brieflein, dass Sie
mir so liebevoll für meine Heimkehr
schenkten u. dann noch weiter eine Karte
vom 7. Mai, erzähle u. plaudere ich Ihnen
wie die Spatzen, die neben meinem Zimmerchen
ein Nestlein gerüstet u. ihren Spatzen-
kinderchen in letzer Zeit unermüdlich
u. unter grossem Lärm alle X Futter,
Würmchen u. andre Raritäten brachte.
Wenn jemand bei uns recht gut schwätzen
kann, dass heisst’s [7]: Du kannt’s
wie ein Rohrspatz! – Ihr Brief, ach wie 
freute es mich wieder, wie freute er uns
alle! Dank, Dank inniglich! Nur eine
Nachricht musste uns gar sehr betrüben,
das Unglück, das Ihren Enkel Herold [8]
getroffen. Sagen Sie ihm doch unsre herz-
lichste Teilnahme. – Sein ausserorndlich
schönes, edles, ergebenes Gemüt wird
ihm diese bitter schwere Heimsuchung lin-
dern helfen, sagen Sie auch seiner Mutter
einen teilnehmenden Gruss. Sein Vater
Ihr lb. Sohn ist glaube ich schon heim-
gegangen. – Ach was [9], wie viel u. wie
opferwillig haben Sie dem lieben Gott von
Ihrem Liebsten schon geschenkt! Und das Alles,
Alles, denken Sie sich, wird einst in doppelt
Liebes für Sie umgewandelt! Lassen Sie
sich durch diesen Gedanken Alles ersetzen,
alle Ihrem Herzen versetzten Verlurste.
Letzte Woche besuchte uns eine Verwandte
von Churwalden, eine Ursula Hemmi, Tochter
des Dor. [10] [Johann Florian] Hemmi, welcher eine Nannili Wol-
finger [Marianna Juliana Hemmi [-Wolfinger]] v. Balzers geheiratet hatte. – Freudig
zeigte ich Ihr eine Karte von Ihnen, [11]
sie aber wollte es mir nicht glauben, dass
Sie noch so wunderlieblich schreiben können,
es scheint, sie glaubt es mir, trotz mei-
ner freudigen u. festen Versicherungen
noch heute nicht. –

So, so eine so schöne Weinernte hatten Sie
vergangenes Jahr? - Die unsre war auch
noch besser, als erwartet ausgefallen,
Gott sei Dank, jener wunderbare Oktober
war die Rettung der Früchte. Eine, oder
viele u. verschiedene, immer grösser werden-
de Rebenkrankheiten lässt d. Freude an
Weinbergen bei uns bald sinken. – Die
Kupfervitriolanwendung muss in Liechten-
stein obligatorisch [12] so häufig vorgenommen
werden, dass die Auslagen mit Allem Übrigen
berechnet die Einnahmen bald nicht mehr
decken dürfen. – Jedoch trotz äusserst kaltem
schneeigen Frühling auch bei uns, kam [13]
Anfangs Mai plötzlich ein 3 Wochen an-
haltender starker warmer Föhn, der in dem
Rebstock Wunderbares erzweckte, ihn zu
völliger Übbigkeit antrieb. Herrlich war
er denn auch gediehen, leider musste nun nur
ein heftiger Regen in die Blüte kommen. –
Doch vom Himmelssegen hängt allein Ja
Alles ab, dieser möge Ihren Weinbau auch
schützen u. befruchten. –

In Nauvoo scheint in letzter Zeit mächtig
u. grossartig gebaut zu werden. Ganz herr-
lich schöne Gebäude erstehen ja da u. da-
mit gewiss auch einen Aufschwung für
Ihre Ortschaft, die dadurch erscheinenden
Lohnerhöhungen sind ja aber gerade
zu horrent. – Bei solchen [14] könnte man
in unsern natürl. viel kleinern Verhält-
nissen einfach nicht mehr existieren. –
Ein Weinbergarbeiter zu 1.80 [15] fl. bis 2 fl. [16]
u. eine Arbeiterin zu 1 fl. inclusive [17]
9 u. 4 Uhr-Essen ist bei uns schon ziem-
lich viel. – Dagegen können wir auch den
Wein nur zu 20 Xr. pr. Lt. (Weisswein)
u. Rotwein Anfangs 30 xr. od. etwas mehr
verkaufen. –

In letzter Zeit hatte es sich sehr um die Eisenbahn-
frage für Liechtenstein gehandelt. Leider,
leider müssen wir nun immer deutlicher
einsehen, dass uns d. Bahn die Concurrenz-
fürchtende Schweiz nicht gönnen will,
trotzdem dieser Mangel für uns immer
fühlbarer wird. – Es heisst die Schweizer
lassen ihren Neid ein bischen zu sehr
merken, – könnten [18] sie unser wenn auch
kleines u. nicht sehr bemitteltes Land doch
statt in seinem Fortschritt zu hemmen, ihm
doch nicht ganz die Thüren zu schliessen? –
Ihre Hauptfurcht besteht eben in der viel-
leicht zu stande kommenden Splügenbahn,
welche im Anschluss an eine eventuell
liechtensteinische die Schweiz benachteiligte. [19]

Lieber Herr Vetter, wer ist wohl od. sind
wohl die freundl. Mary u. J Bury 
(Second Avenue, looking North, Seattle) Ihrer
Ansichtskarte v. 7. Mai, worauf ein Gruss
v. diesen beigefügt? – Sagen Sie diesen
doch einen freundl. Gegengruss. –

Neulich wurde die von Egon [Rheinberger] auf Masescha
mit viel Kunstsinn neu erbaute Villa [20]
bezogen u. sehr anerkennend beurteilt. [21]
Er baute sie für einen Herrn in Japan,
einen Enkel des einstigen Landesverweser
[Johann Michael] Menzinger. – Egon hat gleich Vater [Peter Rheinberger] u.
Grossvater [Johann Peter Rheinberger] eine ausgesprochene Gabe
für Architektur, sodass er von der
Bildhauerei auf diese übergegangen ist.
Seine Burg Gutenberg überraschte mich,
es ist ein Werk, in dem man die aka-
demische Kunst sofort findet, doch
vollendet wohl nicht so bald, [22]
es erscheint mir fast wie eine Lebens-
aufgabe. [23] Es ist eben kein gewöhnlicher
Hausbau, eine alte Ruine, eine frühere
Grafenburg soll in seinem ziemlich ur-
sprünglichen Styl wieder erstehen u. wie
Egon hofft, unserm Fürstenhause zum
Ankaufe gefallen. –

Oft will uns der Gedanke bald recht be-
sorgen, sollte Egon, der schon 37, sich nicht
verheiraten wollen. Wenn wir wegstürben
hätte er dann wohl kaum mehr eine Seele
auf der Welt, die sich um ihn kümmerte,
die Theilnahme der Verwandten, nicht
wahr die kennt man, die mussten besonders
Sie, lieber, armer Herr Vetter schmerzlich
fühlen. – Egon erwähnte auch schon selbst,
wenn wir in der betrübenden Lage wären
von den Verwandten abhängig zu sein, [24]
erginge es uns wohl nicht so gut. – Sie sind
ja schon recht, doch als Waisen hat man
eben oft ein doppelt Verlangen nach Liebe,
ein wenig Liebe nur. – Egon ist eben gleich
mir eine schüchterne, zurückgezogene
Natur, die immer denkt „nur Niemand sich
aufdrängen“, so mag es gekommen sein, dass
er immer noch unverheiratet. Mit ihm u. noch
einem einzigen Sohne aus dem [Gasthaus] Löwen wäre
dann unser Geschlecht Rheinberger wenigstens
in Europa ausgestorben, – dieser Gedanke
tut mir so weh. – Der hl. Antonius zu
dem Olga [Rheinberger] ein so grosses Vertrauen hat
u. der ihr schon so oft wunderbarer Weise
geholfen, ihn müssen wir noch recht
fest anbetteln. – Letzte Woche trug man
auch einen Sohn [Oscar Rheinberger], einen hoffnungsvol-
len Studenten d. 6. Gymnasialklasse
ungefähr 19 Jahre, des Postmeisters Ge-
org Rheinberger [Georg Theodor Rheinberger] zu Grabe. Die Mutter [Maria Rheinberger [-Heeb]] [25] wollte an dem geöffneten Grabe fast zu-
sammen brechen, Gatte, Sohn u. Vater ver-
lor sie in 13 Monaten. – Man hofft, dass
ihr jetzt wenigstens die Post in Leitung
ihrer Tochter doch nicht genommen wird. –
Ich habe nun noch etwas recht Schweres
auf dem Herzen, lb. H. Vetter, gewöhnt
in Ihrer lb. goldigen Seele, der ich so sehr
vertraue, Trost, Mut zu holen. – Lieber, lie-
ber Herr V., würden Sie nicht den lb. Gott für
mich bitten, mich doch nicht mehr nach
Arosa zu schicken, in jenen eisigen Nor-
den Tag u. Nacht, der mich oft bis in’s
Innerste erschütteln liess. – Wenn es mir auch
recht, recht orndlich mit d. Lunge ergeht ver-
verlangte d. Arzt in Arosa unbedingt noch ein-
mal einen Winter, – hu !! – Ich nehme jetzt
daheim d. rühml. bekannten Sonnenbäder, wie
ein Neggerjunge sehe ich dadurch schon aus.
Dem hl. Antonius bringe ich immer wieder
frische Blümchen, damit er mich nicht mehr fort-
schicke, ach Sie können es so gut, sprechen auch
Sie, ich bitte von ganzem Herzen mit d. lb. Gott
darüber, dass er Erbarmen walten lasse. [26]

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[1] LI LA AFRh Ha 18. Brief in lateinischer Schrift.
[2] Seitenwechsel.
[3] Seitenwechsel.
[4] Unterstrichen.
[5] Durchstrichen.
[6] Seitenwechsel.
[7] Durchstreichungen.
[8] Seitenwechsel.
[9] Unterstrichen.
[10] Doppelt unterstrichen.
[11] Seitenwechsel.
[12] Unterstrichen.
[13] Seitenwechsel.
[14] Unterstrichen.
[15] Unterstrichen.
[16] Unterstrichen.
[17] Seitenwechsel.
[18] Durchstreichungen.
[19] Seitenwechsel.
[20] Durchstreichung.
[21] 1906/1907 für Ing. Hermann Kessler, Generaldirektor von Siemens in Ostasien, errichtet. Vgl. Cornelia Herrmann: Die Kunstdenkmäler des Fürstentums Liechtenstein, Bd. II, S. 201-202.
[22] Seitenwechsel.
[23] Der Wiederaufbau der Ruine Gutenberg erfolgte in den Jahren 1905-1912. Vgl. Herrmann, Kunstdenkmäler, Bd. II, S. 66 ff.
[24] Seitenwechsel.
[25] Seitenwechsel.
[26] Der Brief bricht hier ab.