Emma Rheinberger an Alois Rheinberger über die Schicksalsschläge, Todesfälle und Geisteskrankheiten in der Familie Rheinberger, den gegenwärtigen Umbau des Roten Hauses in Vaduz durch Egon Rheinberger sowie die Einladung zu einem Besuch in Liechtenstein
Handschriftliches Originalschreiben der Emma Rheinberger, Vaduz, an Alois Rheinberger, Nauvoo (Illinois) [1] Weihnachten 1903, Vaduz Verehrter lieber Herr Vetter Sie haben uns diesen Herbst eine grosse Freude gemacht, der lang- gehegte Wunsch nach so vielen, vielen Jahren doch wieder einmal etwas von Ihnen, Ihrer lb. Familie zu hören, erfüllte uns Ihr liebes, so sehr ansprechendes Brieflein. – Haben Sie Dank dafür, lieber Herr Vetter, vom ganzen „roten Haus“, dessen Bewohner Ihnen ein lebhaftes Interesse bewahrt. – Unsre lb., leider nicht mehr unter uns weilenden Eltern [Peter Rheinberger, Theresia Rheinberger [-Rheinberger]] erzählten uns viel von Ihnen u. wir bedauerten u. bedauern noch (nur) immer sehr, dass Sie mit Ihren Lieben uns so [2] weit entfernt. Eine ganz besondere Anhänglichkeit an Sie, lb. Herr Vetter ist in mir wach geblieben, vielleicht erinnern Sie sich noch schwach an meinen Namen „Emma Rheinberger“? Ich hatte [3] Ihnen, Ihren lb. Töchtern früher hie u. da geschrie- ben u. es war für mich alle mal ein Fest, ein Freudetag, eine lb. Antwort von Ihnen zu bekommen, bis ein Umstand dazwischen trat, der mir auf Jahre tief–kränkend in's Herze schnitt, so zwar, dass ich mich seither nicht mehr entschliessen konnte ein Brieflein nach Amerika zu schicken. – Lassen Sie es mich aufrichtig bekennen, lb. Herr Vetter wie das kam. – Ein Sohn von Ihnen, dessen Namen ich nicht mehr kenne, sandte einmal seine Pho- tographie an meine Adresse. Eine Ihrer lb. Töchtern, ich meine d. lb. Anna erfreute uns näm- lich mit verschiedene Bildern ihrer Geschwister, wir hatten unsere helle Freude an den lieben, herzigen Gesichtchen, eines darunter gefiel mir ganz be- sonders, ein Vetterchen war’s. Ich „Kindskopf“ wie ich noch war, besann mich in meinem dum- men, kindischen Sinne, nicht lange u. schrieb dem netten Vetterle eine Karte, wie sein Bild mir imponirt habe. Darauf hin sandte er sein oben erwähntes Bild noch einmal mit einer engli- schen Bemerkung auf der Rückseite. Leider [4] nicht englisch (nur französisch) sprechend, lief wie- der ohne langes Besinnen, wie das ja so ein kindi- scher Backfisch überhaupt nie tut, lief ich nur schleunigst zu einer Cousine in [Gasthaus] Löwen, welche damals einen Bekannten hatte, d. englisch sprach, um jene Bemerkung auf d. Bilde zu entziffern. – Bald darauf kam auch d. Cousine herauf mit der Entzifferung u. mit – mit – einem nicht we- nig hönischen Gesichte! – Entsetzlich – was der amerikanische Vetter darauf geschrieben hatte, eine Beschämung [5] für mich, die mich schier auf Mordgedanken [6] kommen liessen, die mich verletzten, wie man eben nur so ein Kindskopf verletzten kann: „Ihr Vetter … N . N. ist – ein schlechter Liebhaber.“ stand darauf. Sein Name war natürlich dabei, aber ich habe ihn ganz absichtlich [7] in meinem unbeschreiblichen, kindischen Grolle ver- gessen. – Denken Sie sich, lb. Herr Vetter, diese Beschämung schon vor der schadenfrohen Cousi- ne für mich. - Ich weiss nicht wie lange ich mich vor ihr auf dem Esterrich [8] oben (wenn sie zu uns herauf kam) versteckt habe, mindestens 1 Jahr, O – dieser amerikanische Vetter, – hätte ich es ge- [9] konnt, – hätte ich ihm am liebsten die Augen aus- gekrazt! Verzeihen Sie, lb. Herr Vetter, heute muss ich d'rüber lachen, – damals habe ich’s bitter ernst genommen, so dass ich all‘ die Jahre kein Brieflein mehr an Sie zu Stand gebracht. Vielleicht ist d. Stolz von uns deutschen Mädchen auch leichter zu ver- letzen, oder sind die amerikanischen Männer alle solche „Wau-Wau“, oder Brummbären? – Sollten Sie das Bärlein noch entdecken (er muss längst verheiratet sein.) melden Sie ihm doch meinen unfreundlichsten [10] Gruss!! Und wenn er einmal nach – Vaduz käme, täte ich ihn allsogleich auf…fres…sen vor Wut!! – Den übrigen lieben Bäschen u. Vetterchen allen aber bringen Sie meine herzlichsten Grüsse, ich habe sie immer lieb behalten, nur jenen [11] bösen Vetter habe ich nie gemocht. – Wie kann man doch in seinen Kin- derjahren oft für Einfälle haben, den Spass in Ernst gestalten, nicht wahr, – u. später im Leben den einstigen kindischen Sinn belächeln. Indessen nahmen wir regen Anteil an Ihrem Leid u. Freud, worüber wir durch Berta Schauer hie u. da erfuhren. [12] – Wie viele male frage ich sie: Du, Berta, sage mir, jetzt noch einmal, wie sieht der Vetter Alois aus? u. seine Töchter? u. sein Heim? Der Inbegriff eines trauten Familienkreises muss Ihr Heim gewesen sein, als Sie noch alle Ihre Lieben um [13] sich haben durften. – Leider müssen Sie Lücken fühlen, schmerzliche Lücken darunter. Lassen Sie uns besonders über die letzte schwere Lücke, die der Tot mit Ihrem lb. Sohne verursacht, unsre tief- gefühlteste Teilnahme entbieten. – Die Geheim- nisse – Gottes , wie unfasslich erscheinen sie uns oft, nicht wahr u. doch bergen sie ja immer wieder nur das Beste. So möge dieser uns so wolwollende Gott Sie denn trösten, trösten auch besonders über den Heimgang Ihrer lb. Frau [Margarethe Rheinberger [-Brasser]], was Ihnen wol fast am wehesten getan haben muss. – Der Glaube, das Ver- trauen auf d. höhere Walten lässt uns solch bitter wehen Tagen allein in jenem Frieden, jenem Glücke erstarken, das Alles übertriff – alles irdisch‘ Glück u. Unglück. – Von letzterem hat d. lb. Gott unsrer Familie ziemlich viel zu kosten gegeben, – einer Familie, welche bisher wol die Stätte des Glückes war, Krankheit u. Tod hat es (zum grossen Teil wenigstens) zerstört. Unser geliebtes Väterchen hat uns d. lb. Gott schon vor 10 Jahren geholt, [14] was wir erst gar nicht geschehen lassen wollten. – Gleich darauf starb die aus- sergewönlich [15] liebevolle Tante Anna [Maria Anna Emilia Nigg [-Rheinberger]], [16] Mamas einzige Schwester, die etliche Jahre mit Ihnen, verehrt. Herr Vetter Correspondiert hatte. – Dann forderte d. lb. Gott wol das grösste Opfer von uns, ein grösseres als d. Tod: unsere [17] geliebte, älteste Schwester Hermine [Rheinberger] wurde plötzlich Geisteskrank, unser Todesschrecken darüber lässt sich nicht schildern. Sie die so [18] intelligente, geistreiche, immer fröhliche von dieser Krankheit heimgesucht! – Sie war besonders in der Schriftstellerei begabt u. hatte auf dringendes Ersuchen ein Buch „Gutenberg – Schalun“ [19] veröffentlicht, worüber sie allgemeine Freude erntete, bis an eine für sie ungünstige Kritik, welche sie so ernst, tief u. schwer aufnahm, dass sie nicht mehr zu trösten war. Sie sagte „ich weiss, wie viele, ja sogar grosse Männer schlechte, ungünstige Urteile über sich ergehen lassen mussten, aber dies überlebe ich nicht.“ – Dazu kam noch, dass sie in d. Hände eines ungeeigneten, egoistischen Verlegers geriet, wel- cher ihr immer wieder vorgab, das Buch hätte keinen Absatz etc., so dass ihr Geist in wenigen Wochen umnachtet war. – Was wir darüber geweint haben, weiss Gott im, Himmel, nur unser teures Mütterlein blieb tapfer. Wir liessen unser teures, armes Lieb nicht aus d. Haus, Mütterlein, tröstete, pflegte, 1 ganzes Jahr, bis sie selbst zusammen brach, – das Leid, das Elend d. Toch- ter, – die Ohnmacht zur Rettung dabei hatte Mütterchens Geist u. Herz selbst gebrochen, auch Mütterchens Geist umnachtet. Können Sie sich das Elend von uns 3 Kin- dern nun denken? – Unter keiner Bedingung liessen wir auch d. teure Mutter nicht aus dem Haus. Mütterchen [20] war nun im untern u. Hermine im obern Stock krank u., niemanden Fremden vertrauten wir d. Pflege an – Tage – Tage unendlichen Kummers – schliess. bestand ein Spezialist darauf, uns d. geliebt. Kranken zu nehmen. – Die lb. Mutter kam zu einem Spezialisten in die Nähe Stuttgarts, wo sie so gut besserte, dass man bereits an die fröhliche Rückkunft dachte, als eine Depesche: „Frau Hauptmann plötzlich an Herzschlag gestorben“, uns Kinder ganz vernichtete. [21] – Das Heimweh nach unsrer Mutter, einer Frau, wie man sie selten trifft, – will nicht erlöschen. – Die lb. Schwester nahm eine, uns Kin- dern nun „Alles“ gewordene Tante, eine Ordens-Schwes- ter im Kloster Zams (es ist Vaters Schwester [Maxentia Rheinberger]) zu sich in’s Kloster, wo Hermine nun schon 5 Jahre weilt, u. wo wir von Gott geduldig ihre Genesung abwarten. – So viel herbe Heimsuchungen hat d. lb. Gott in Ihrer Familie doch nicht verlangt, nicht wahr? – Aber wenn der bittere Kelch gebracht, einmal überwunden, würde man ihn doch nicht mehr hergeben, diesen kostbaren Schatz, nicht wahr? – Inzwischen hatte uns d. lb. Gott noch viel gelassen, Vaters Bruder Onkel Josef [Josef Gabriel Rheinberger] in München, Componist Rheinberger, dessen Musik in Amerika sehr beliebt, er hatte auch viele ame- rikanische Schüler auf d. Akademie. – Onkel hatte es weit gebracht, bis zum Geheimrat, Doctor, u. zum Adel. Er war aber so bescheiden, dass er sich selten von [22] Rhein- [23] berger schrieb, so bescheiden, dass bis nach seinem Tode [24] niemand wusste, welch‘ enormes Vermögen er hinter- liess; den Stadtarmen Münchens allein hinterliess er 100tausend Mkr. [Mark] u. den Vaduzer Armen 30‘000 Mkr., welches zu verteilen er so nett jährlich auf Weihnachten, wenn Christkindlein kommt, bestimmte. – Leider mussten wir ihn nur zu balde verlieren. – Die Bewohner d. rotes Hauses reduzieren sich nun noch auf uns 3 Geschwister. Unser Bruder (Künstler) [Egon Rheinberger] ist am gänzlichen Umbau unseres Hauses im altgoti- schen Style begriffen, [25] es gewinnt dadurch auch sehr an Raum, das Haus mit d. grossen Thurm daran birgt jetzt 11 [26] Zimmer, aber leider geht es lange, schon d. 3. Jahr bis zu ihrer Vollendung. Sind Sie denn jetzt ganz allein, in Ihrem lb. gemüt- lichen Heim? – Aber doch Ihren Kindern nahe? – Und auch gewiss viel Besuch v. Ihren lb. trauten Enkelein? O, lieber, lieber Herr Vetter, könnten Sie sich den gar nicht [27] entschliessen, noch [28] einmal Ihre alte, lb. Heimat wieder- zusehen? - Wir gehen nämlich sehr ernstlich mit diesen vielleicht verwegenen, aber herzlichen Wunsche um. Was wäre das für eine Freude, ein Jubel unter uns! Das rote Haus: Ihr einstig lb. Heim stünde Ihnen zur Verfügung. Und reisen lässt sich ja heute so leicht, eine Tochter, od. 1 Sohn könnte Sie auf der Reise beschützen. – Sagen Sie doch nicht „nein“, verehrter Herr Vetter, giebt es et- was lieberes, etwas anziehenderes, als d. lb. süsse, alte Hei- mat? Wo Mütterchen [29], gewiss unser „Alles“, Väterchen u. sein eigen glückselig Kinderherz geweilt? Zwar weiss ich, weiss es leider [30], das Sie als frühe mutterlose Waise in d. Heimat vielleicht nicht [31] viel freudenreiche Tage sahen, aber wir Kinder wollten gewiss sehr, sehr lieb zu Ihnen sein. Heimelt es uns ja doch unaus- sprechlich an, alles was mit unsern treuen Eltern Bezug hat. – Ein Bild- chen von Ihnen, lb. Herr Vetter, wäre diese Bitte von uns sehr unbeschei- den? Machen Sie uns doch bitte, bitte diese Freude. – Erlauben Sie uns schliess- lich noch ein recht gutes, gesundes [32] neues Jahr, mit Gottes Segen zu wünschen von Egon, Olga [Rheinberger] u. Ihrer herzlich ergebenen Emma Rheinberger /rotes Haus/ [33] Die Photographie der Kinder Ihres Sohnes Hans erfreuten uns gar sehr u. danken wir herzlichst dafür. – Nur Ihr [34] Bildlein nicht vergessen, bitte, es würde uns so glücklich machen. – [35]
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[1] LI LA AFRh Ha 18. Brief in lateinischer Schrift. [2] Unterstrichen. [3] Seitenwechsel. [4] Seitenwechsel. [5] Unterstrichen. [6] Unterstrichen. [7] Unterstrichen. [8] Unterstrichen. [9] Seitenwechsel. [10] Unterstrichen. [11] Unterstrichen. [12] Vgl. die Briefe von Bertha Schauer an Alois Rheinberger unter LI LA AFRh Ha 19. [13] Seitenwechsel. [14] Peter Rheinberger verstarb am 19.10.1893. Vgl. Vaduzer Familienchronik, Bd. IV, S. 168. [15] Unterstrichen. [16] Maria Anna Emilia Nigg [-Rheinberger] verstarb am 5.1.1894. Vgl. Vaduzer Familienchronik, Bd. IV, S. 187. [17] Seitenwechsel. [18] Unterstrichen. [19] Hermine Rheinberger: Gutenberg-Schalun. Eine Geschichte aus dem 14. Jahrhundert. Chur 1897. [20] Seitenwechsel. [21] Theresia Rheinberger [-Rheinberger] verstarb am 14.1.1901. Vgl. Vaduzer Familienchronik, Bd. IV, S. 168. [22] Unterstrichen. [23] Seitenwechsel. [24] Josef Gabriel Rheinberger verstarb am 25.11.1901. Vgl. Vaduzer Familienchronik, Bd. IV; S. 162. [25] Zwischen 1902 und 1905 erfolgte ein Umbau des „Roten Hauses“ in Vaduz durch Egon Rheinberger, durch welchen das Gebäude sein heutiges Aussehen erhielt. Nach eigenen Plänen baute er einen Turm und verband mit ihm das dahin frei stehende Wohnhaus und das Torkelgebäude. Vgl. Cornelia Herrmann, Die Kunstdenkmäler des Fürstentums Liechtenstein, Bd. II, S. 287 ff, hier S. 288-289. [26] Durchstreichung. [27] Unterstrichen. [28] Unterstrichen. [29] Unterstrichen. [30] Unterstrichen. [31] Seitenwechsel. [32] Unterstrichen. [33] Die Textpassage „viel freudenreiche Tage … rotes Haus/“ wurde auf der 1. Seite des Briefes hinzugefügt. [34] Unterstrichen. [35] Absatz nachträglich auf der 2. Seite des Briefes hinzugefügt.
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