Liechtenstein protestiert gegen das schweizerische Vorgehen gegenüber Rudolf Ruscheweyh


Note der Regierung an das Eidgenössische Politische Departement, Abteilung für Auswärtiges [1]

22.9.1945

Die fürstliche Regierung beehrt sich die Aufmerksamkeit des Eidgenössischen Politischen Departementes auf folgende Angelegenheit zu lenken.

In Schaan, Liechtenstein hat seit dem 29. März 1940 der deutsche Reichsangehörige Rudolf Ruscheweyh Wohnsitz. Im Zuge der fremdenpolizeilichen Vereinbarung zwischen der Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein vom Jahre 1941 [2] ist das Aufenthaltsverhältnis Ruscheweyhs erstmals am 19. Jänner 1944 von der eidgenössischen Fremdenpolizei in Bern bestätigt worden und zwar für die Dauer eines Jahres als Toleranzbewilligung. [3] Bei Ablauf dieses Jahres hat Rudolf Ruscheweyh durch seinen Vertreter um die Erneuerung der Toleranzbewilligung gebeten. [4] Gemäss den bestehenden Vorschriften hat die fürstliche Regierung die neue Toleranzanzeige der Eidgenössischen Fremdenpolizei in Bern mit dem Antrage auf Zustimmung für ein weiteres Jahr übermittelt. Im Laufe dieser Verhandlungen hat die Eidgenössische Fremdenpolizei mit Schreiben vom 14. Februar 1945 der fürstlichen Regierung mitgeteilt, dass sie einer weiteren provisorischen Toleranzbewilligung nur zustimmen könnte, wenn Ruscheweyh einen Betrag von Fr. 10'558'270.11 bis zur Abklärung eines Clearingstreites sicherstelle. [5] Ruscheweyh erhielt die Auflage, sich unverzüglich mit der Schweizerischen Verrechnungsstelle in Zürich in Verbindung zu setzen, damit die Art und Weise der Sicherstellung festgesetzt werden könne. In der gleichen Note teilte die Eidgenössische Fremdenpolizei mit, dass nach Mitteilung von gut informierter Stelle sich Ruscheweyh auf der französischen Kriegsverbrecherliste befinden soll. Das Schreiben der Eidgenössischen Fremdenpolizei wurde mit Schreiben der fürstlichen Regierung vom 28.3.1945 beantwortet. Die fürstliche Regierung legt eine Abschrift dieses Schreibens bei. [6] In der Folge zeigte es sich, dass es richtig gewesen war, die Forderung wegen Einzahlung der 10 Millionen nicht an Herrn Ruscheweyh weiterzugeben, da es sich herausstellte, dass dieser Streit allein die Firma Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon, Bührle & Co. betraf, in keiner Weise aber Herrn Ruscheweyh. [7]

In Erledigung des Schreibens der fürstlichen Regierung erfolgte aber nicht eine Zustimmung der Eidgenössischen Fremdenpolizei zur weiteren Tolerierung Ruscheweyhs in Liechtenstein, sondern mit Verfügung vom 14. Juni 1945 wies die Eidgenössische Fremdenpolizei Herrn Rudolf Ruscheweyh aus dem Gebiete des Fürstentums Liechtenstein weg mit der Begründung, dass die weitere Anwesenheit Ruscheweyhs unerwünscht sei. [8] Gegen diese, ohne vorherige Verständigung mit der fürstlichen Regierung erfolgte Wegweisung sah sich diese genötigt, mit der in Abschrift mitfolgenden Note vom 29. Juni 1945 [9] an das eidgenössische Justiz– und Polizeidepartement zu gelangen, mit der Feststellung, dass die Wegweisung über ihren Kopf hinweg und ohne mit ihr zu verhandeln verfügt worden sei. Die Regierung betrachte sich in ihren Rechten aus dem fremdenpolizeilichen Übereinkommen vom 23. Jänner 1941 benachteiligt und lehne die Zustellung der Wegweisungsverfügung an Herrn Ruscheweyh ab. Gleichzeitig bat die Regierung zur Klarstellung des Falles und zur Vermeidung künftiger Unstimmigkeiten um Anberaumung einer Konferenz, zu welcher die Vertreter der fürstlichen Regierung einzuladen wären.

Die von der fürstlichen Regierung erwartete Konferenz wurde nicht anberaumt und es erfolgte die Antwort des Eidgenössischen Justiz– und Polizeidepartementes vom 16. August 1945, wovon eine Abschrift beigelegt wird. [10]

In dieser Note wird die Bitte der fürstlichen Regierung um Anberaumung einer Konferenz als Beschwerde bezeichnet. Die Regierung aber hatte die Absicht, durch eine konferenzielle Beschwerde diesen Zwist zwischen der Eidgenössischen Fremdenpolizei und der fürstlichen Regierung aus der Welt zu schaffen. Die Antwort der fürstlichen Regierung auf die Note des Eidgenössischen Justiz– und Polizeidepartementes liegt ebenfalls in Abschrift bei. [11] In dieser Note bat die fürstliche Regierung neuerdings um Anberaumung einer Konferenz und um die Abstandnahme der Zustellung der Wegweisungsverfügung bis nach Beendigung der Konferenz.

Trotz dieser wiederholter Bitte hat die Eidgenössische Fremdenpolizei in Bern mit Verfügung vom 3. September 1945 die Zustellung der Wegweisungsverfügung an Herrn Rudolf Ruscheweyh direkt verfügt [12] und der fürstlichen Regierung lediglich eine Abschrift eines Briefes an Rudolf Ruscheweyh übermittelt mit dem Beifügen, dass die von der Regierung beantragte Konferenz im Zuge eines Rekursverfahrens stattfinden könne, wenn die Regierung weiterhin darauf Wert legen würde.

Durch diese Art der Behandlung sieht sich die fürstliche Regierung in ihren vertraglichen Rechten beeinträchtigt und es ist ihr unverständlich, wie die Eidgenössische Fremdenpolizei die berechtigten Wünsche des anderen Vertragspartners ablehnt und damit die Regierung desavouieren kann.

Nach den gesetzlichen Bestimmungen gehört die Wegweisung eines Ausländers in die Zuständigkeit der Kantone. Liechtenstein hat nach der Vereinbarung vom 23.1.1941 über die Regelung fremdenpolizeilichen Beziehungen die Stellung eines Kantons. Zur Erlassung einer Wegweisungsverfügung gegen einen in Liechtenstein domizilierten Ausländer ist somit ausschliesslich die liechtensteinische Regierung zuständig und die Eidgenössische Fremdenpolizei könnte eine von der fürstlichen Regierung erlassene Verfügung auf das Gebiet der Schweiz ausdehnen. Diese Rechtsauffassung der fürstlichen Regierung findet ihre Bestätigung in [Max] Ruth, Fremden–Polizeirecht der Schweiz, Seite 114 [13]: "Wegweisung ist jede Verfügung eines Kantons, der zufolge der Ausländer diesen sofort oder auf einen bestimmten Termin zu verlassen hat ... Hierauf verfügt die Eidgenössische Fremdenpolizei in der Regel die Ausdehnung der Ausreisepflicht auf die ganze Schweiz, es sei denn, dass sie ausnahmsweise aus besonderen Gründen dem Ausländer die Möglichkeit offen lassen will, in einem anderen Kanton eine Bewilligung nachzusuchen. Vorausgesetzt, dass Ausreisepflicht aus einem Kanton besteht, kann sie auch dann ausdehnen, wenn der Kanton diese nicht mitgeteilt hat.“

Es ist der fürstlichen Regierung ausserordentlich viel daran gelegen, die traditionelle Freundschaft mit den Eidgenössischen Behörden weiterhin zu pflegen. Sie glaubt aber, dass es nicht unbescheiden ist, wenn sie neuerdings die Bitte stellt, ihren Wünschen auf eheste Anberaumung einer Konferenz zu entsprechen, um so die Möglichkeit zu schaffen, alle diesen Fall betreffenden Differenzen zu besprechen.

Dabei darf die fürstliche Regierung darauf hinweisen, dass sie bestimmte Mitteilung hat, dass Rudolf Ruscheweyh nicht auf der französischen Kriegsverbrecherliste steht. [14]

Indem die fürstliche Regierung das Eidgenössische Departement bittet, ihren Wünschen zu entsprechen, benützt sie auch diesen Anlass, das Eidgenössische Politische Departement ihrer ausgezeichneten Hochachtung zu versichern.

 

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[1] LI LA V 143/3167 (a). Aktenzeichen: 204/485. Entwürfe und Kopien der Note in LI LA V 004/1948/04. Die Note wurde dem Eidgenössischen Politischen Departement am 26.9.1945 durch die Gesandtschaft in Bern übermittelt.
[2] LGBl. 1941 Nr. 4.
[3] LI LA V 004/1948/04. 
[4] Nicht aufgefunden.
[5] LI LA V 004/1948/04 (b).
[6] Nicht wiedergegeben. Mehrere Exemplare des Schreibens in LI LA V 004/1948/04 und LI LA V 143/3167. Die Regierung wies in diesem Schreiben darauf hin, "dass wir uns [...] ausser Stande sehen, Herrn Ruscheweyh zu dieser Einzahlung zu veranlassen, weil es unserer Ansicht nach keinen rechtlichen und gesetzlichen Grund gibt, diese Forderung an Herrn Ruscheweyh zu stellen". Die Regierung betrachtete die schweizerischen Forderungen als Verletzung der Interesses des Landes, die man sich "unter gar keinen Umständen gefallen lasse" (LI LA V 004/1948/04, Protokoll der Besprechung zwischen Regierungschef Josef Hoop und Ludwig Marxer, 13.3.1945).
[7] Die Schweizerische Verrechnungsstelle wies die Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon Bührle & Co. mit Verfügung vom 15.3.1945 an, die Ruscheweyh noch geschuldeten Provisionen von 1,9 Mio. Fr. sowie die bereits direkt an Ruscheweyh ausbezahlte Summe von 10,1 Mio. Fr. zuhanden des deutsch-schweizerischen Clearingverkehrs an die Schweizerische Nationalbank zu zahlen. In der Folge kam es zu einem komplexen Rechtsstreit, der erst 1956 mit einem Vergleich beendet wurde.
[8] LI LA V 004/1948/04.
[9] Nicht wiedergegeben. Mehrere Exemplare der Note in LI LA V 004/1948/04 und LI LA V 143/3167.
[10] Nicht wiedergegeben. Original des Schreibens in LI LA V 004/1948/04, Kopien ebd. sowie in LI LA V 143/3167.
[11] Nicht wiedergegeben. Mehrere Exemplare des Schreibens in LI LA V 004/1948/04 und LI LA V 143/3167.
[12] LI LA V 004/1948/04, Eidgenössische Fremdenpolizei an Rudolf Ruscheweyh, 3.9.1945. Ruscheweyh legte gegen die Wegweisungsverfügung Rekurs ein (LI LA V 004/1948/04, Rekurs, 3.10.1945).
[13] Max Ruth: Das Fremdenpolizeirecht der Schweiz. Textausgabe des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer und der Vollziehungsverordnung vom 5. Mai 1933, mit einer einlässlichen Darstellung der neuen Vorschriften für die Praxis, sowie einem alphabetischen Sachregister. Zürich 1934.
[14] Armin Hodler, einer der Anwälte Ruscheweyhs, liess in Frankreich Erkundigungen einziehen, die ergaben, dass Ruscheweyh nicht auf der Liste stand (LI LA V 004/1948/04, Suzanne Blum an Armin Hodler, 6.9.1945; Armin Hodler an die schweizerische Bundesanwaltschaft, 28.9.1945; LI LA V 143/3167, Armin Hodler an Prinz Heinrich, 8.9.1945).