Das "Darmstädter Tagblatt" kritisiert die Kapitalflucht nach Liechtenstein


Artikel im "Darmstädter Tagblatt" [1]

9.2.1933

Liechtenstein, ein Flüchtlingsparadies

Besondere Schutzgesetze für Kapitalflüchtlinge und Schieber – Reiche Leute werden geschützt

Ein Land, das durch die Weltkrise reich wird

Die Brüder Rotter sind nach dem Fürstentum Liechtenstein entkommen, wo sie die Staatsangehörigkeit erlangt haben. [2] Von dort werden sie nicht ausgeliefert.

Die Brüder Rotter, die wegen Betruges, Untreue und Konkursverbrechens von der Staatsanwaltschaft steckbrieflich verfolgt werden, da der Zusammenbruch ihres Theaterkonzerns durch verbrecherische Handlung erfolgt ist, sind nach dem Fürstentum Liechtenstein geflüchtet. Hier haben sie die Staatsangehörigkeit erworben und sind dadurch vor Verhaftung und Auslieferung geschützt. Sie können also das unrechtmässig erworbene Gut, das sie sicherlich rechtzeitig nach Liechtenstein gebracht haben, in Ruhe geniessen. Jetzt ist auch verständlich, warum sie trotz des freien Geleites, das ihnen zugesichert wurde, sich in Berlin dem Staatsanwalt nicht gestellt haben. Das Fürstentum Liechtenstein, dessen Bürger nun auch die beiden Rotters sind, ist das einzige Land der Welt, das durch die Weltkrise reich geworden ist. Dieses kleine Ländchen, das insgesamt über ungefähr 12'000 Einwohner verfügt, hat im Jahre 1920 die Schweizer Frankenwährung eingeführt und dadurch wertbeständiges Geld behalten. Als die Kapitalflüchtlinge in dieser Zwergmonarchie ein Paradies sahen, wohin sie ihre Gelder und unter Umständen sich selbst in Sicherheit bringen konnten, blühte das Land wirtschaftlich auf. Im Jahr 1928 wurden Gesetze [3] erlassen, durch die es den Kapitalisten und Aktiengesellschaften leicht wurde, sich hier niederzulassen. Nach dem Artikel 955 braucht die Errichtung von Aktiengesellschaften nicht einmal im Amtsblatt veröffentlicht zu werden, sondern es genügt eine Art Ankündigung. Die Einbürgerung in Liechtenstein ist ein besonderes Geschäft, das die kleinen Gemeinden machen. Jede Einbürgerung kostet ungefähr 15'000 Schweizer Franken. Die beiden Rotters haben also für sich 30'000 Franken bezahlen müssen, eine verhältnismässig geringe Summe, wenn man bedenkt, welche Vorteile sie dadurch geniessen. Gibt es etwas Schöneres, als vor jedem Zugriff eines Staatsanwaltes sicher zu sein?! Dieser Schutz hat viele Schieber und Betrüger veranlasst, Bürger des Fürstentums Liechtenstein zu werden, auch wenn sie hier nicht ständig leben. Erstens brauchen sie nicht so viel Steuern zu zahlen. Hier zahlt man an Steuern 1 Prozent vom Einkommen und ¾ Prozent vom Vermögen. Ist man also Liechtensteiner Bürger, dann hat man nur wenige Abgaben. Dafür aber hat man noch die Sicherheit, dass man im Falle einer Gefahr schnell hierher fahren kann, wo man geborgen ist. Denn nicht umsonst ist man Untertan des Fürsten von Liechtenstein geworden. Liechtenstein hat nämlich eine vorzügliche Automobilstrasse, die nach Vaduz, der Hauptstadt des Landes, führt. Da die Schieber alle über gute Autos verfügen, so ist diese Strasse von grösster Wichtigkeit. Man kann aber auch im Schnellzug, der den Balkan über Wien mit Paris verbindet, hierhergelangen. Seit den Gesetzen, durch die das internationale Schiebertum in Liechtenstein einen grossen Schutz geniesst, ist der Verkehr mit diesem kleinen Ländchen ausserordentlich gross. Da jede Gesellschaft, die sich in Liechtenstein niederlässt, hier einen Vertreter haben muss, so kommt viel Geld ins Land. Grosse Niederlassungen mit Büros sind hier nicht zu finden, denn es handelt sich nicht um ernsthafte Bestrebungen der Aktiengesellschaften, hier eine Vertretung zu haben, sondern nur um Scheingeschäfte, die als Vorwand für Kapitalflucht dienen. Als Vertreter dieser Gesellschaften kommen Rechtsanwälte, Kaufleute, ja sogar Handwerker in Betracht, die dadurch eine hübsche Einnahme haben. Es wurde berechnet, dass im letzten Jahre aus den Gebühren der fremden Gesellschaften sowie aus den Einnahmen für Staatseinbürgerungen ein Betrag von 5 Millionen Franken erzielt wurde. Für eine Bevölkerung von 12'000 Menschen bedeutet diese Summe einen recht beträchtlichen Zuschuss, durch den der gesamte Etat des Landes bestritten werden kann. Da die Geschäfte ausgezeichnet blühen, so wird von Amts wegen alles getan, um sie ständig zu vergrössern. Nur so ist es möglich, dass hier allmählich ein Paradies für Flüchtlinge entstanden ist. Liechtenstein kümmert sich nicht darum, dass die ganze Welt über diese eigenartigen Geschäfte sich aufregt. Es ist ein souveränes Land und kann Gesetze erlassen, gegen die kein anderes Land Einspruch erheben darf. Es nutzt seine Souveränität in ganz modernem Sinne nicht dazu aus, sich Militär zu halten und in die grosse Politik dreinzureden, sondern Geschäfte zu machen und Geld aufzuhäufen. Das Land ist so abgelegen von dem grossen Weltverkehr, dass es auf viele Besucher nicht rechnen kann. Es war also auf sich selbst und den kleinen Handel angewiesen, der nicht viel Geld ins Land bracht. Man hatte schon daran gedacht, das Beispiel des anderen Zwergstaates Monaco nachzuahmen und hier eine Spielbank zu errichten. Ein Grand-Hotel mit einem Kursaal sollte hier den Mittelpunkt eines grossen Fremdenverkehrs bilden, der durch die Spielbank herangezogen werden sollte. Inzwischen aber hat die Weltkrise auch Monaco betroffen. Auch die Spielbank von Monte Carlo ist durchaus nicht mehr ein glänzendes Geschäft. Die Machthaber von Liechtenstein fürchten nun, dass die Spielbank ein Fiasko werden könnte, zumal Liechtenstein nicht über eine so schöne Umgebung verfügt, wie das Paradies Monte Carlo. Es musste also ein neues Mittel gefunden werden, um Geld oder Fremde ins Land zu ziehen, die Geld bringen sollten. Der Zeitpunkt war nicht gerade sehr geeignet für eine Fremdenwerbung, denn nirgends in der Welt gab es mehr Geld. Da kam die Regierung auf den guten Gedanken, aus der Krise Geld zu ziehen. Diejenigen Kapitalisten sollten angelockt werden, die noch tatsächlich über Geld verfügten, wenn auch ihre Steuerbehörde davon nichts wusste. Damals wanderte das Flüchtlingskapital nach der Schweiz. Hier aber wurde es nicht gern gesehen, denn die Schweizer Banken waren bald so überhäuft mit fremdem Geld, dass sie es nicht mehr verwenden konnten. Liechtenstein war aber nicht abgeneigt, einen Teil dieses Goldüberflusses in das eigene Land zu ziehen und errichtete – im Gegensatz zur Schweiz – sogar einen grossartigen Werbedienst. Die Regierung erliess Werberundschreiben, kam den Kapitalisten auf alle mögliche Art und Weise entgegen, errichtete für sie besondere Gesetze und erreichte schon nach kurzer Zeit, dass nicht nur aus Europa, sondern in der letzten Zeit auch aus Amerika Kapital hierher floss. Der Prinz von Liechtenstein [Franz Josef], der künftige Herrscher, fuhr sogar eigens nach Amerika, um die Geschäfte kennen zu lernen und vielleicht auch einige gute Beziehungen anzuknüpfen. So bekam Liechtenstein nunmehr auch seinen Fremdenverkehr, erhielt neue Bürger und bekam vor allen Dingen eine regelmässige, hohe Einnahme, die von Monat zu Monat wächst, denn es gibt hier schon ungefähr 3000 Aktiengesellschaften. Auf je vier Bürger kommt eine Aktiengesellschaft. Diese Geschäfte sind von der Konjunktur nicht abhängig, wie die Einnahmen der Spielbank von Monte Carlo, das Geld kommt nicht von Abenteurern, sondern von soliden Kapitalisten, die nur unsittlich genug sind, ihrem eigenen Lande die Steuern zu entziehen. Aber non olet! Der Zwergstaat Monaco plündert seine Besucher aus, der Zwergstaat Liechtenstein die anderen Staaten.

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[1] Darmstädter Tagblatt, Nr. 40, 9.2.1933, S. 9. Ein Exemplar des Artikels in LI LA RF 131/409/062. Weitere Zeitungsausschnitte zur deutschen Pressekampagne gegen Liechtenstein in den Jahren 1932/1933 finden sich unter LI LA RF 131/409/002-004, 006. Vgl. den Protest der Regierung gegen die Pressekampagne vom 9.4.1933 (LI LA RF 131/409/032).
[2] Alfred Schaie und Fritz Schaie (alias Rotter) wurden 1931 in der Gemeinde Mauren eingebürgert.
[3] Das Personen- und Gesellschaftsrecht (LGBl. 1926 Nr. 4) und das Gesetz über Treuunternehmen (LGBl. 1928 Nr. 6).