Das Liechtensteiner Volksblatt warnt vor der Auswanderung


Zeitungsartikel, nicht gez. [1]

16.3.1921

Unsere Landwirtschaft und die Auswanderungsfrage.

Die zunehmende Arbeitslosigkeit in fast allen unserer heimischen Industrien hat in breiten Schichten unserer Bevölkerung eine tiefe Depression ausgelöst. Dazu kommt noch der systematisch betriebene Lohnabbau, der immer schärfere Formen Annimmt. Ob nun letztere Massregel ihre Berechtigung habe, lasse ich dahingestellt; Tatsache ist, dass besagte Umstände nur zu sehr dazu beitragen, dass zahlreiche wertvolle Arbeitskräfte direkt heimatsüberdrüssig werden. Es ist deshalb begreiflich, wenn die indirekten Werbungen fremder Regierungen (denn anders können die diesbezüglichen Vorträge nicht bewertet werden), zum Zwecke der Urbarisierung und Besiedelung ihrer ausgedehnten, überseeischen Ödländereien willig Gehör finden. Ja die beifällig aufgenommenen Referate erweckten sogar einen wahren Enthusiasmus, der einer sicheren Sache würdig wäre. Denn um der Propaganda noch einen einigermassen aufrichtigen Charakter zu verleihen, wird nicht verfehlt, auch auf die mannigfachen Entbehrungen, und sagen wir ruhig auch Enttäuschungen hinzuweisen, denen nur durch eine umfassende Solidarität wirksam begegnet werden könne. Das ganze Problem ist schon im Interesse eines künftigen bodenständigen Landarbeiterstandes wichtig genug, um einer eingehenden Betrachtung unterzogen zu werden.

Wohl das bestechendste Moment für den auswanderungslustigen Arbeiter ist die vollständige unentgeltliche Abgabe eines Landkomplexes, dessen Grösse je nach Umständen zwischen 6—20 und mehr Jucharten (hiesiges Ausmass) variiert. Hiezu kommt noch als Aufmunterungsprämie die freie Überfahrt. Als Gegenwert behalten sich die dortigen Behörden den Abschluss eines mindestens fünfjährigen Kontraktes vor, in dem Sinne, dass das zur Verfügung stehende Grundstück innert besagter Frist in produktives Kulturland umgearbeitet werden muss. Setzen wir noch als günstigen Punkt voraus, dass das Klima mindestens dem hiesigen entspricht, was aber durchaus nicht immer zutrifft; manchmal birgt das fremde Klima Gefahren und Nachteile sowohl in gesundheitlicher als kultureller Beziehung in sich. Man denke nun, welche Unsummen von „hard work" es während einer Reihe von Jahren bedarf, um dem Boden soviel abzuringen, damit eine Familie aus dem Erlös überhaupt existieren kann; selbst dann, wenn die dortigen Behörden den Absatz garantieren. Dass sie das tun, liegt in ihrem ureigensten Interesse, haben sich doch damit die Festsetzung der jeweiligen Preise in der Hemd. Ferner ist doch wohl die Frage berechtigt, auf welche Weise denn der junge Unternehmer (sie haben drüben ein besonderes Wort für diese geprägt: Greenhorn) sein Auskommen bestreiten soll, bis zu dem Zeitpunkte, da er die ersten Produkte in klingende Münze umsetzen oder kompensieren kann. Etwa aus dem Erlös der Siebensachen, die um Transportkosten zu sparen, um jeden Preis losgeschlagen wurden? Das ist ja gerade das Betrübende an der ganzen Sache, dass der Appell meistens bei vermögenslosen Arbeitern zuerst Anklang findet. Drüben ist er wohl scheinbar Herr der eigenen Scholle, der eigentliche Herr ist jedoch der Abnehmer seiner Produkte, hinter dem irgend ein beinahe allmächtiger Trust das Wohl und Wehe des Pflanzers und Produzenten bestimmt.

Es ist noch gar nicht lange her, als einer der vielen Betörten voller Begeisterung erklärte, für die ersehnte eigene Scholle wären ihm 11 bis 15 Stunden täglicher Arbeit nicht zu viel. Ist es vielleicht der Reiz des Neuen, Fremdartigen, der einen solchen Unternehmungsgeist und Schaffensdrang erweckt? Das allein genügt leider nicht, auf die Ausdauer kommt es an, und das ist ehrlich gesprochen, nicht gerade die stärkste Seite des Auswanderers, sonst würde er trotz der anhaltenden Krisis nicht die Flinte ins Kirnt werfen, sondern zäh und unverdrossen die Existenzmöglichkeit ergreifen, die sich im eigenen Lande bietet.

Und nun die Parallele : Die heimische Landwirtschaft muss von Jahr zu Jahr die unangenehme Entdeckung machen, dass man sich selbst in jenen Arbeiterkreisen scheut, Landarbeit zu verrichten, die bei jeder Gelegenheit auf die grossen gesundheitlichen und auch materiellen Vorteile des Bauernstandes hinweisen. Belöhnung und Beköstigung wären ja schön und gut, aber die Arbeitszeit ist zu lang, das ist der ständige Refrain, aller dieser Neidhymnen. Sonderbar, worin soll nun eigentlich der Unterschied bestehen, ob nun drüben in der Neuen Welt 15 Stunden gearbeitet werden oder hier? Ferner, um auf die bereits angetönten Entbehrungen zurückzukommen, meint man diese mit aller Willenskraft tragen zu körnten, also ohne Verein, Sport und Anlässe aller Art. Welch ungeheure Summen könnten hier bei Aufwendung derselben Willensstärke jährlich erspart werden, aber es geht nun eben „standeshalber" nicht. Drüben, wo man schon in sprachlicher Hinsicht fast ohne geistigen Kontakt dasteht, glaubt man die notwendigen Abwechslungen entbehren zu können. Das sind Gegensätze, deren Ursachen mehr in oberflächlicher Schwärmerei liegen.

Der geneigte Leser wird mir entgegenhalten, dass es drüben doch schon mancher zu einem Wohlstand gebracht, zu welchem er in der Heimat nie gelangt wäre. Etwas Wahres mag daran sein, trotzdem ist zu entgegnen, dass jenen, hätten sie in der alten Welt dieselbe Ausdauer und Energie entwickelt, gewiss ein ebenso beachtenswerter Erfolg beschieden gewesen wäre.

Ein weiterer Haken ist besonders für Familien mit schulpflichtigen Kindern hervorzuheben; denn abseits von den grossen Bildungszentren liegt das Schulwesen noch sehr im argen, da hilft alle Schönfärberei nichts. Die geistige Bildung der Jugend ist aber gerade für die unbemittelten Stände das beste, was ihnen geboten werden kann.

Ich will, um mein Kapitel zu schliessen, noch auf eine Begebenheit aufmerksam machen, die vor nicht so vielen Jahren gehörig Staub aufgewirbelt hat. Da verstand es ein Referent in ungezählten Vorträgen, eine Menge Leute zur Auswanderung nach einem modernen Kanaan zu bewegen. Alles ging glatt von statten, bis diese Emigranten an ihrem Bestimmungsort angelangt waren, woselbst jedoch absolut keine Siedelungsmöglichkeit vorhanden war, da das umliegende kulturfähige Land von einigen reichen Farmern aufgekauft worden war. Schliesslich blieb den Farmern nichts anderes übrig, als sich ganz ins Innere zu begeben, in eine trostlose Einöde, denn zur Rückreise besass kein einziger die erforderlichen Mittel. Schliesslich stellte es sich heraus, dass jener Referent ein Agent einer dubiosen Schiffahrtsgesellschaft war, der für jedes Opfer eine staatliche Prämie bezog.

Ob nun solche Vorkommnisse endgültig der Vergangenheit angehören, wer mag es wissen? Es klingt vielleicht nach Sentimentalität, in diesen Zeiten von Heimatliebe zu schreiben, das wird mich indessen nie hindern, vor diesem Entschluss auf ganz unsicherer Basis zu warnen und dafür ein kategorisches: Zur heimatlichen Scholle zurück! entgegenzuhalten.

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[1] L.Vo. 16.3.1921, S. 2