Johann Meier spricht an der Generalversammlung des Liechtensteiner Lehrervereins über den Niedergang der Sittlichkeit und Religiosität, das Schwinden der Autorität, die Arbeitsunlust und Genusssucht sowie die Charakterlosigkeit in der Gesellschaft


Wiedergabe eines Vortrages von Johann Meier vom Liechtensteiner Lehrerverein durch das „Liechtensteiner Volksblatt“ [1]

6.9.1919 (27.8.1919)

Vortrag des Herrn Lehrers Meier in der 1. General-Versammlung des liechtenst. Lehrervereins, am 27. August d. J.

Mit der heutigen Versammlung beschliessen wir das erste Vereinsjahr und da ist es wohl nicht überflüssig, einen kurzen Rückblick auf dasselbe zu halten und insbesondere den Zweck des Vereines dabei ins Auge zu fassen. 

Jene Lehrer, welche im Auslande dienten, fanden es hier in Liechtenstein schon längst als einen grossen Mangel, dass wir hier nicht wie dort einen Lehrerverein haben und die Lehrer und Geistlichen nicht wie dort durch brüderliche, gegenseitige Liebe und gegenseitiges Vertrauen, und durch gegenseitige Unterstützung einander die schwere Bürde ihres bedeutungsvollen Berufes erleichtern und den Erfolg in Erziehung und Unterricht damit sicherstellen. Endlich ist der Verein zum Segen unserer Schule, unserer Jugend gegründet und es wurde im verlaufenen Vereinsjahre schon tapfer in demselben gearbeitet, indem fünf Generalversammlungen und im Ober- und Unterland je drei Bezirksversammlungen mit Vorträgen und Besprechungen gehalten wurden und besonders die Abänderung der veralteten Schulgesetze besprochen wurde. 

Die Lehrer sind in der Ansicht einig, dass die Jugend in erschreckender Weise an Bosheit, Widerspenstigkeit, Rohheit und Frechheit zunimmt. Das ist eben der verheerende Zeitgeist, dem wir nicht Einhalt bieten können, der Zeitgeist, der so unsägliches Elend auf unsere Erde brachte, in dem wir jetzt schmachten.

Der Redner findet die Gründe der gegenwärtigen ernsten, traurigen Zeit in fünf Richtungen:

1. Im Niedergang der Sittlichkeit und Religiosität

Die Geschichte ist da unsere Lehrmeisterin und hat uns stets bewiesen, dass die Grösse und Kraft der Völker und Staaten mit der Religion steht und fällt. Eine Erziehung ohne Religion bringt Unglück, Streit, Hader, Unsittlichkeit und alles Verderben in die Familie, in die Gemeinde und in den Staat. Daher ist die religiöse, sittliche Erziehung unserer Jugend ein Hauptzweck unseres Vereins.

2. Im Tiefstand an Gerechtigkeit u. Liebe

Aus der Religionslosigkeit entspringt die gegenwärtige Kälte der Herzen und die Ungerechtigkeit gegenüber den Mitmenschen. Nebst Gottesliebe auch wahre Nächstenliebe zu erziehen, ist der Zweck unseres Lehrervereins.

3. Im Schwinden der Autorität

Niemand will gehorchen, niemand schert sich um das vierte Gebot und doch ist der Gehorsam die einzige Möglichkeit zu einem geordneten, glücklichen Leben in Familie, Gemeinde und Staat. Unsere Jugend zum pünktlichen Gehorsam zu erziehen, ist der Zweck unseres Vereines.

4. In der ausgesprochenen Arbeitsunlust und Genusssucht

Diese Klagen sind bei uns laut und mit Recht; man will nicht mehr arbeiten, sondern nur dem Genusse, dem Trunke, dem Spiele und allen Vergnügungen fröhnen, und ohne Arbeit und Sparsamkeit ist kein Wohlstand und kein Glück zu finden. Die Erziehung unserer Jugend zur Arbeitsamkeit und Sparsamkeit ist der Zweck unseres Vereines.

5. In der Charakterlosigkeit und Willensschwäche

Wie schwer sind bei uns noch Männer zu finden, bei denen es heisst: Ein Mann ein Wort! Lug und Trug ist zur Mode geworden. Wie wankend und willensschwach ist das Volk! Wie Wetterfahnen flattern die Menschen hin und her, keine Überwindungskraft, keine Enthaltungsmöglichkeit ist mehr vorhanden; was ihnen in die Augen fällt oder in den Sinn kommt, müssen sie haben, und bei der geringsten Versuchung fallen sie. Die Erziehung zur Charakterstärke ist daher der Zweck unseres Vereines.

Um aber diesen Vereinszweck möglichst zu erreichen, müssen alle Erziehungsfaktoren, die Eltern, die Lehrerschaft, die Geistlichkeit und die Behörden zusammenhalten. „Durch Eintracht entsteht Grosses, durch Zwietracht wird es zerstört."

Um die Eltern für eine gute Kindererziehung zu gewinnen und damit sie in Zukunft in der Erziehung ihrer Jugend die Lehrerschaft und Geistlichkeit unterstützen, sollten bei uns in allen Gemeinden baldigst die Elternabende eingeführt werden. Wenn auch die unterstützenden Mitglieder des Lehrervereins schon gleichsam die Wurzeln des Vereines ins Volk hinaus sind, so würden durch die Elternabende alle rechtdenkenden, einsichtsvollen Eltern für gute Erziehung der Jugend gewonnen, und wenn auch schon der Verein sehr geeignet ist, die Volkstümlichkeit der Schule zu fördern, so wird dies aber ganz besonders durch die Elternabende geschehen.

Um das gegenseitige Vertrauen, die gegenseitige Berufsliebe, die gegenseitige Unterstützung und das Pflichtgefühl zu fördern ist der Lehrerverein gegründet. Hier ist Gelegenheit zur gegenseitigen Aussprache, hier kann man das Herz gegenseitig ausschütten, nur muss es in Liebe und guter Absicht geschehen, ja nicht beleidigend – mehr in bittendem und lobendem als befehlendem und tadelndem Tone.

Also walte in unserem Vereine immerdar Friede, gegenseitige Liebe und gegenseitiges Vertrauen und somit sei unser Verein Gott befohlen und „Gott zur Ehre, der Jugend zum Heil!" sei unsere Parole.

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[1] L.Vo., Nr. 71, 6.9.1919, S. 3. Vgl. auch die Statuten des Liechtensteiner Lehrervereins, welche von der Regierung am 1.5.1919 genehmigt worden waren (LI LA SF 29/1919/1931 ad 1380).