Elias Wille schildert seine Auswanderung nach Amerika (4. Folge: Behandlung durch die Einwanderungsbehörde in Ellis Island)


 Reisebericht im Liechtensteiner Volksblatt, gez. Elias Wille [1]

5.4.1907

Reiseerinnerungen und Erlebnisse einiger Liechtensteiner.

(Erzählt von Elias Willi.)

(Fortsetzung)

Wir wurden sofort vor die Inquisition geführt und verhört. Dieses Verhör steht noch so lebhaft in meinem Gedächtnis, als wär's gestern gewesen; ich könnte den Wortlaut desselben hier genau anführen, ich will aber nur kurz bemerken: Einige in der Verwirrung gemachte Aussagen qualifizierten uns als Kontraktarbeiter, obwohl ja nicht die leiseste Spur von Wahrheit an der Geschichte war. Keine gegenteiligen Erklärungen und Erläuterungen halfen mehr. „Das hiesige Gericht hat beschlossen, Sie in Amerika nicht zuzulassen; Sie werden mit dem Dampfer „Vaderland" kostenlos retour gesandt. Haben Sie gegen dieses Urteil etwas einzuwenden, appellieren Sie an das kaiserlich deutsche Generalkonsulat in Washington." Hätte ein Blitz aus heiterem Himmel neben uns in die Erde geschlagen, die Wirkung wäre keine grössere gewesen. Wir standen wie versteinert und mussten erst von einem Polizisten weg und ins Deportationsgebäude geführt werden, ehe wir recht zur Besinnung kamen. Die Gefühle, die jetzt auf uns einstürmen, sind mir selbst nicht klar: Angst, Zorn, Verzweiflung wirds gewesen sein; zudem wurden wir noch mit Hohngelächter von den schon Anwesenden empfangen. „Deportied, retournat!". schrieen sie uns entgegen, sichtlich befriedigt, wieder einige Schicksalsgenossen eintreten zu sehen. Den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht rannten wir in dem Raume umher, weinten und jammerten oder sassen wieder brütend auf unsern Koffern, ganz unter dem Bann des ersten überwältigenden Eindrucks. Ich will nun zuerst den sachlichen Gang der nun folgenden Verhandlungen anführen. Also das war am 1. Mai! Andern Morgens stand im gelesensten deutsch-amerikanischen Organ des Landes, der „New-Yorker Staatszeitung“:

Fünf junge Deutsche auf Ellis Island ausgeschlossen.

Die Zahl der auf Ellis Island Ausgeschlossenen ist wieder um fünf junge Deutsche vermehrt worden. Mit dem Dampfer „Vaderland" kamen vier junge Männer an, namens F. G., H. B., E. W. und K. K.[2] Diese waren auf Einladung eines Bruders des letzteren, der in der Kajüte reiste und früher in Pittsburg in Arbeit stand, herüber gekommen. Sie erklärten vor der Inquistion, dass sie nicht nach Amerika gekommen wären, wenn dieser Bruder ihnen nicht sichere Arbeit in Aussicht gestellt hätte. Auf Grund dieser Aussage wurden sie von der Inquisition ausgeschlossen. Der fünfte war ein Hannoveraner und hatte mit unserem Fall nichts zu tun. Wir waren summarisch von der Inquisition behandelt worden und nun ebenso summarisch in der Zeitung. Nachmittags erschienen ein Agent der deutschen Einwanderungsgesellschaft und der Pastor D. von der deutschen lutherischen Kirche, zugleich Leiter des deutschen lutherischen Emigrantenhauses in New-York. „Wo sind die jungen Deutschen?" — „Hier!" „Warum seid Ihr hier?" - Wir erzählten nun den ganzen Hergang vor der Inquisition wie auch den wirklichen Sachverhalt. „Seid Ihr protestantisch?” — „Nein, wir sind katholisch.“ - „Katholisch, nun wir wollen sehen, was sich für Euch tun lässt.“ Die beiden Herren nahmen sich in der anerkennenswertesten Weise unserer Sache an, wie denn auch die Agenten der verschiedenen Einwanderungsgesellschaften, zu ihrer Ehre sei's gesagt, das Möglichste tun zum Wohle der ihrer Nationalität angehörenden Internierten, viele haben deren Bemühungen die Wendung ihres Schicksals zu danken. Andern Tages sagte uns dann der Agent: ,,Wisst ihr was, Ihr braucht ja gar nicht nach Pittsburg zu gehen, bleibt hier in New-York, in zwei Stunden verschaffen wir Euch allen Arbeit, es gibt solche genug in New-York. Schreibt jetzt ein Gesuch an den Einwanderungskommissär, legt den ganzen Sachverhalt klar, wahrheitsgetreu und fügt bei, Ihr wollt Euch in New York Arbeit suchen, das deutsche lutherische Emigrantenhaus werde Euch dabei behilflich sein.“ Wir verfassten also ein Gesuch von ungefähr folgendem Wortlaut:

An den Hochwohllöblichen Herrn
Einwanderungskommissär Robert Watchore,
Ellis Island.

Hochwohllöblicher Herr Kommissär!

Auf Urteil der hohen Inquisition werden wir hier auf Ellis Island festgehalten und sollen als angebliche Kontraktarbeiter deportiert werden. Wir haben zwar auf Anraten eines Kameraden Pittsburg als Reiseziel gewählt, nicht aber sind wir auf dessen Einladung nach Amerika gekommen. Dieser Kamerad ist weder mit uns herüber gekommen, noch gab er uns eine Adresse, folglich können wir auch nicht Kontraktarbeiter sein. Wir bitten den Hochwohllöblichen Kommissär, diesen Umstand in Erwägung zu ziehen. Als adresslos verstossen wir wohl gegen das bestehende Gesetz, wir wären aber bereit, uns in New-York Arbeit zu suchen, das deutsche lutherische Emigrantenhaus stellt uns diesbezüglich seine Dienste zur Verfügung. Wir bitten den Hochwohllöblichen Kommissär, uns die Landung in New-York gütigst zu gestatten und appellieren in dem Sinne an sein persönliches Wohlwollen gegenüber deutschen Einwanderern.

Mit den Gefühlen tiefster Hochachtung
zeichnen ergebenst

(folgen die Unterschriften)

 

Das war am Donnerstag. Freitag morgens wurden wir von dem Kommissär, nachmittags von einem aus siebzehn Herren zusammengesetzten Gericht vernommen. Wir machten dieselben Aussagen, wie wir sie in dem Gesuch niedergelegt. Am Schluss des Verhörs stellte der Verhörrichter noch folgende Frage an uns.: „Haben Sie nicht etwa aus irgend einem Grunde die Adresse verheimlicht?“ – „Nein, wir haben keine Adresse, hätten wir eine solche gehabt, wären wir ja gar nicht beanstandet worden.“ -  „O, das ist gar nicht gesagt, wir wissen sehr wohl, dass viele Firmen Emissäre nach Europa senden, Arbeiter für ihre Diente zu engagieren und dass auf diese Weise eine Menge Arbeiter importiert  werden.“ Den Erfolg des Gesuches konnten wir andern Tages demselben Organ entnehmen, der New-Yorker Staatszeitung. Da stand wörtlich geschrieben: „Delegat Archibald berichtete mit vieler Wichtigtuerei, dass erst gestern Kommissär Watchorn auf seine Veranlassung vier deutsche Kontraktarbeiter zur Deportation verurteilt habe." Dann folgte noch ein Sermon, wie gerecht es sei, diesen fremden „Scabs" [3] gegenüber so zu verfahren, die doch den hiesigen Arbeitern das Brot wegnehmen.

(Forts. folgt.)

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[1] L.Vo. 5.4.1907, S. 1 f.
[2] Fridolin Gstöhl, Heinrich Büchel, Elias Wille und Klemens Kindle.
[3] Scab: Streikbrecher.