Das Liechtensteiner Volksblatt wettert im Wahlkampf mit antisemitischen Argumenten gegen die Klassenlotterie


Sensationell aufgemachter Bericht im Liechtensteiner Volksblatt, nicht gez. [1]

5.1.1926

Also wirklich!!!

Ein Flugblatt der „Liechtensteiner Nachrichten“ hat vorgestern Bericht erstattet über die Beantwortung der Interpellation des Abg. Peter Büchel. Dieser Nachrichtenbericht ist inhaltlich voll und ganz eine glänzende Bestätigung des Volksblattberichtes am Neujahrstag.

Die Aufgeregtheit in den staatsbeherrschenden Kreisen scheint da wirklich in gänzliche Kopflosigkeit ausgeartet zu sein. Einen besseren Dienst als die Veröffentlichung dieses Flugblattes hätte man uns im jetzigen Augenblick nicht erweisen können. Wir danken herzlichst für dieses weitherzige und grosszügige Entgegenkommen.

Also wirklich! Man gesteht es ein: Die gesamte Klassenlotterie wackelt und kracht an allen Ecken und Enden. Also wirklich!

Die ganze traurige Gesellschaft kann morgen früh schon verschwunden sein und unser gutes armes Volk ist wirklich schmählich angeschwindelt.

(Zur anschaulichen Beleuchtung: Wenn man sagt: Die sogenannte Klassenlotterie ist der grosszügigste Schwindel, der in der ganzen geschichtlichen Entwickelung unseres Landes vorgekommen ist, so sagt ein Mitglied der Volkspartei, ihr Landtagsabgeordneter und eingeweihtes Mitglied der Finanzkommission in öffentlicher Gesellschaft mit vielsagendem und bedauerndem Lächeln die freimütigen Worte:

Das Gegenteil kann ich Euch nicht beweisen!!!

Also wirklich!

Die Regierung und die Finanzkommission haben mit offenkundigen groben Verfassungsbrüchen unser armes, aber arbeitslustiges und strebsames Völklein in unverantwortlicher Weise um eine schöne Verdienstmöglichkeit gebracht.

Nicht genug damit! Nicht bloss jene Liechtensteiner, die unmittelbar bei dem Klassenlotterieunternehmen vielleicht auf lange Zeit hinaus einen schönen Verdienst gehabt hätten, wenn die Behörden uneigennützig u. mit offenen Augen die Verhandlungen mit dem Unternehmen geführt hätten, nicht bloss die unmittelbaren Angestellten des Unternehmens, sondern überhaupt die Gesamtheit unseres Volkes ist durch die vorläufig noch im Amt sitzenden hohen Herren auf das schwerste geschädigt worden. Wären die Behörden uneigennützig und aufrecht eingetreten für das Gesamtwohl unseres Vaterlandes, so hätte sich nur ein gediegenes und geldkräftiges Lotterieunternehmen bei uns ansiedeln können, und nicht eine derart fragwürdige Judengesellschaft, die heute schon, also noch vor den Landtagswahlen, gerade in den amtlichen ausführlichen und blumenreichen Schilderungen des Reg. Chefs [Gustav Schädler]dasteht als ein einzigartig frech angelegtes Schwindelunternehmen.

Nicht genug!

Wenn man dafür gesorgt hätte (wie es strengste Pflicht gewesen wäre), dass sich nur ein gediegenes Unternehmen niederlassen konnte, dann wäre es leicht möglich gewesen, dass unser Volk heute nur mehr lächerlich geringe und unter Umständen überhaupt gar keine Steuern mehr bezahlen müsste. Aber man hat sich wohl gedacht: Da würden die Liechtensteiner zu übermütig! Dem wollen wir schon abhelfen!

Nicht genug!

Auch im Ausland hat uns unsere Behörde durch ihre verfassungsbrüchige Nachlässigkeit in Verruf gebracht, nicht nur um diese eine schöne Verdienstmöglichkeit, sondern auf Jahrzehnte hinaus um jede ähnliche Verdienstmöglichkeit gebracht, bis man im weiteren Ausland sehen wird, dass sich bei uns die Gutgesinnten endlich ermannt und erhoben und die aufgehäufte Sauerei mit vieler Mühe wieder ausgemistet haben.

Wir wissen es: unsere zahlreichen Leser wundern sich und freuen sich über unsere freie und offene Sprache.

Wir wissen es auch: Im knirschenden Ingrimm des blossgestellten Schuldigen wird man alle gesetzlichen und gerichtlichen und vielleicht auch alle ungesetzlichen und ungerichtlichen Mittel und Hebel in Bewegung setzen, um uns den Mund zu stopfen. In dieser für unser Volk so äusserst entscheidungsvollen Woche lassen wie uns aber den Mund nicht stopfen.

Wir können nicht mehr anders als mit aller Macht darauf dringen: Heraus mit der Sprache! Herunter mit der Fratze der ewigen Schönrednerei und Wortverdreherei. Durch die Gaue der beiden Landschaften geht heute anlässlich der Neuwahlen für den Landtag ein entschlossener und begeisterter Ruf durch die Reihen aller Gutgesinnten:

Auf zur Notwehr! Wir lassen uns nicht an die Juden verkaufen!

Dieses Unternehmen, so wie es jetzt laut Regierungsbericht dasteht, ist unabänderlich einem jämmerlichen Bankerott geweiht. Aber auch ohne Regierungsbericht hätte man sich das vermittels des gewöhnlichen gesunden Bauernverstandes an den Fingern abzählen können:

Überhaupt jede Lotterie kracht jämmerlich zusammen, wenn sie keine Lose mehr verkaufen kann.

Diese „unsere“ gegenwärtig in den letzten Zügen schnaufende Klassenlotterie hätte ihre Lose verkaufen können

entweder im Inland oder im Ausland.

Das Inland ist erstens viel zu klein für diesen Zweck und zweitens: Wenn die Lose nur im Inland verkauft worden wären, wäre ja überhaupt nie Geld ins Land gekommen, sondern ganz im Gegenteil wäre unser Geld aus dem Land hinausgeflossen hinein in die Geldsäcke der dem Auslande angehörenden Gesellschaft.

Wenn aber die arme Gesellschaft, die jetzt im Sterben liegt, ihre Lose im Ausland verkaufen wollte, so ist diese löbliche Absicht heute leider fehlgeschlagen.

Wie uns der Regierungschef im Landtag erzählt hat, haben die Staaten des Auslandes ihre Tore gesperrt.

Die Spatzen pfeifen es vom Dach und der Regierungschef erzählt es dem Inhalte nach im Landtag:

„Unsere“ gegenwärtige oder vergangene arme Klassenlotterie-Gesellschaft ist dem Bankrott, dem Untergang geweiht.

Wer von einem Unternehmen, das von Anfang an den Giftkeim des Bankrottes in sich trug, wer von einem jetzt dem Bankrott geweihten Unternehmen noch Verdienstmöglichkeit hofft, der greife sich an den Kopf!

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[1] L.Vo. 5.1.1926,  S. 2 f.