Das Fürstentum Liechtenstein und der Kanton St. Gallen vereinbaren die Gegenseitigkeit bei der Zulassung zur Gewerbeausübung


Maschinenschriftliches Schreiben des Landammanns und des Regierungsrates des Kantons St. Gallen, gez. Regierungsrat Emil Mäder und Staatsschreiber Hans Gmür, an die liechtensteinische Regierung [1]

13.2.1926, St. Gallen

Hochgeachtete Herren!

In Beantwortung Ihrer Anfrage vom 16. Januar a.c. [2], ob liechtensteinischen Gewerbetreibenden (Schlossermeistern, Installateuren, Baugewerbeleuten usw.) die Ausübung des Berufes bezw. die Übernahme von Arbeiten im Kanton St. Gallen von ihrem liechtensteinischen Wohnorte aus gestattet sei, [3] beehren wir uns, Ihnen mitzuteilen, was folgt:

Diese Frage ist seit dem Inkrafttreten des Zollanschlussvertrages [4] bereits einmal von unserem Bezirksamt Werdenberg mit Ihrem Herrn Regierungschef [Gustav Schädler] besprochen worden. Das Bezirksamt hat in unserem Einverständnis die Erklärung abgegeben, dass der in Frage stehenden Arbeitsübernahme durch liechtensteinische Gewerbetreibende nichts entgegenstehe, wenn für unsere st. gallischen Gewerbetreibenden Gegenrecht gehalten werde. Im übrigen wurde inbezug auf die Arbeitsübernahme von liechtensteinischen Angehörigen auf die Vereinbarung zwischen der Schweiz und Liechtenstein über die Regelung der fremdpolizeilichen Beziehungen vom 28. Dezember 1923 [5] verwiesen und st. gallischerseits eine möglichst loyale Handhabung zugesichert.

Im weitern hat unser Volkswirtschaftsdepartement Ihrem Herrn Regierungschef unterm 16. Januar 1925 auf eine bezügliche Anfrage [6] hin mitgeteilt, dass wir, gestützt auf das Ihrerseits unter Hinweis auf Art. 29 des Gesetzes betreffend die teilweise Abänderung der Gewerbeordnung vom 13. Dezember 1915 [7] angebotene Reziprozitätsverhältnis, bereit seien, liechtensteinischen Angehörigen, auch wenn sie ihren liechtensteinischen Wohnort beibehalten, auf Zusehen hin Patente zur Ausübung des Gewerbebetriebes im Umherziehen [8] zu gleichen Bedingungen wie an unsere Staatsangehörigen zu bewilligen. Bezüglichen Gesuchen ist in der Folge auch ohne Ausnahme entsprochen worden.

Diesem Gegenseitigkeitsprinzip ist nun Ihrerseits insoweit nicht in vollem Umfange nachgelebt worden, als st. gallischen Angehörigen, die der Arbeit in Liechtenstein nachgingen, indessen täglich oder wöchentlich zu ihren Familien nach Buchs oder Sevelen zurückkehrten, vom Lohn eine Steuer in Abzug gebracht wurde. Dasselbe traf auch zu bei einem st. gallischen Gewerbetreibenden, der hin und wieder in Liechtenstein Arbeiten übernahm.

Gemäss Ihrem Schreiben [9] vom 15. vor. Mts. an unser Bezirksamt Werdenberg, das hierüber Einsprache erhoben hatte, ist diese Steuererhebung lediglich auf eine unrichtige Auslegung der einschlägigen Steuergesetzgebung durch die dortigen Arbeitgeber zurückzuführen. Es soll auf keinen Fall in der Absicht der Regierung gelegen haben, die schweizerischen Arbeitnehmer mit einer Steuer zu belasten. Wir haben dann von der Gemeindebehörde Sevelen auch die Mitteilung erhalten, dass den betroffenen Arbeitern die abgezogenen Steuern auf gemachte Vorstellungen hin "soweit dies noch möglich" zurückbezahlt worden sind.

Unter der ausdrücklichen Bedingung, dass das aufgestellte Gegenseitigkeitsprinzip auch Ihrerseits in vollem Umfange eingehalten werde, sind wir bereit, die vom Bezirksamt Werdenberg und von unserem Volkswirtschaftsdepartement gegebenen Zusicherungen weiterhin aufrecht zu erhalten. [10]

Genehmigen Sie, hochgeachtete Herren, die Versicherung unserer vorzüglichen Hochachtung.

Für den Landammann,
Der Regierungsrat:

 

Im Namen des Regierungsrates,
Der Staatsschreiber:

______________

[1] LI LA RE 1926/0619 ad 0018 (Aktenzeichen: 242). Im Briefkopf findet sich das Schweizerkreuz und das Wappen des Kantons St. Gallen mit einem Lorbeerzweig. Das Schreiben ging am 18.2.1926 bei der liechtensteinischen Regierung ein und wurde gleichentags abschriftlich dem F.L. Landgericht zur „Gebrauchsnahme" übermittelt. 
[2] Anni currentis: des laufenden Jahres.
[3] Vgl. das Schreiben der liechtensteinischen Regierung an die Kantonsregierung von St. Gallen vom 16.1.1926, das auf eine Anfrage des F.L. Landgerichtes vom 28.12.1925 zurückging, bei dem mehrere Strafverfahren gegen schweizerische Gewerbetreibende anhängig waren (LI LA RE 1926/0018).
[4] Der Vertrag vom 29.3.1923 zwischen der Schweiz und Liechtenstein über den Anschluss des Fürstentums Liechtenstein an das schweizerische Zollgebiet, LGBl. 1923 Nr. 24, trat nach dessen Art. 45 am 1.1.1924 in Kraft.
[5] Dieses Abkommen wurde nicht im Liechtensteinischen Landesgesetzblatt publiziert. Vgl. jedoch LI LA SgSTV 1923.12.28.
[6] Vgl. Schreiben des Volkswirtschaftsdepartements von St. Gallen an die liechtensteinische Regierung vom 16.1.1925 (LI LA RE 1925/0245 ad 0011) bzw. die Anfrage der liechtensteinischen Regierung an das Justizdepartement des Kantons St. Gallen vom 13.1.1925 (LI LA RE 1925/0011). 
[7] Nach Art. 29 der genannten Gewerbeordnung, LGBl. 1915 Nr. 14, konnten die im Ausland wohnhaften Gewerbetreibenden über Bestellung Gewerbsarbeiten im Fürstentum Liechtenstein ausführen, wenn den liechtensteinischen Landesangehörigen gleiches im jenseitigen Staat gestattet war. Bei jenen Beschäftigungen jedoch, bei denen zum selbständigen Betrieb im Inland eine behördliche Bewilligung (Konzession) erforderlich war, blieben sie an den Nachweis der in der Gewerbeordnung vorgeschriebenen Bedingungen gebunden.
[8] Vgl. in diesem Zusammenhang das Gesetz vom 11.1.1916 betreffend die Erlassung neuer Hausiervorschriften, LGBl. 1916 Nr. 2, und das Gesetz vom 24.11.1921 betreffend Ergänzung und teilweise Abänderung des Hausiergesetzes, LGBl. 1921 Nr. 23.
[9] Nicht aufgefunden.
[10] Die liechtensteinische Regierung erklärte gegenüber der Kantonsregierung St. Gallen mit Schreiben vom 20.2.1926 die Reziprozität in Gewerbesachen, soweit es sich um Gewerbe handelte, die in der Gewerbeordnung behandelt wurden. Bezüglich des Hausiergewerbes machte die liechtensteinische Regierung jedoch einen Vorbehalt, da die Gesetzgebung für die Wandergewerbe eine Ausnahme enthalte (LI LA RE 1926/0619 ad 0018). Das Volkswirtschaftsdepartement des Kantons St. Gallen teilte der liechtensteinischen Regierung am 1.3.1926 mit, dass man umgekehrt, je nach dem Stand der Bedürfnisfrage, an liechtensteinische Staatsangehörige Patente erteile (LI LA RE 1926/0811 ad 0018).