Die liechtensteinische Polizei übergibt zwei Flüchtlinge der St. Galler Kantonspolizei


Schreiben des Sicherheitskorps, gez. Josef Beck, an den Posten Buchs der Kantonspolizei St. Gallen [1]

25.10.1941

Wir überstellen Ihnen heute:

Hedwig Koschewnikuwna, geboren am 31.10.1920 in Gniew, zuständig nach Wilna, Polen, Medizinstudentin, r.kath., ledig, eine Tochter des Leo und der Anna geb. Wolodt, hat Hochschulbildung, ist mittellos, angeblich nicht vorbestraft und besitzt keine Ausweisdokumente.

Lidia Gowor, geboren am 13.10.1918 in Podloziany, zuständig nach Wilna, Polen, Medizinstudentin, r.kath., ledig, eine Tochter des Michael und der Stefanie geb. Danilewitsch, hat Hochschulbildung, ist mittellos, angeblich nicht vorbestraft und besitzt ein Schulabgangszeugnis vom Gymnasium in Slonimie, Wilna.

Die beiden Obgenannten wurden am 24. Oktober 1941 um 22.00 Uhr in Schaanwald durch Schutzmann Beck aufgegriffen, zum hiesigen Posten verbracht und geben folgendes zu Protokoll:

"Unsere Eltern wohnen zk. 200 Km. von Wilna entfernt und wir haben schon mehrere Monate keine Nachricht mehr von ihnen. (Lidia Gowor) Meine Schwester wurde beim Einzug der Russen am 30.4.40 mit ihrem Kinde nach Sibirien verschleppt. Wir waren in Wilna in einer Militärkaserne, dann wieder in einem Kinderspital und zuletzt in einer Munitionsfabrik angestellt. Wir waren also arbeitsdienstpflichtig. Wir verdienten pro Monat 45 Mark, das waren aber keine Reichsmark, sondern in Polen eingeführte Bonmark. Damit mussten wir uns auch selbst verpflegen. Das Essen ist sehr schlecht, das heisst, man bekommt genügend Lebensmittel-, Schuh-, Textil- und ähnliche Karten, kann aber nichts kaufen, weil nichts erhältlich ist. Das Leben ist überhaupt unerträglich. Man muss täglich öfters hören, die polnische Nation muss ausgerottet werden, das sind nur Tiere, u.s.w. Unserem Wunsche weiterstudieren zu können wurde auch nicht entsprochen und zwar mit der gleichen Begründung, wie oben angeführt. Aus diesem Grunde entschlossen wir uns auszuwandern. Diesen Entschluss hatten wir schon lange gefasst und einen Plan ausgehegt. Wir sind zusammen verwandt, unsere Mütter waren Geschwisterkinder.

Am 2. Oktober 1941 sind wir dann aus Wilna weg und zwar in der Absicht nach der Schweiz zu reisen. Es war uns nur darum zu tun, aus Polen und Deutschland weg zu kommen. Sollte es uns nicht möglich sein, in der Schweiz weiterzustudieren oder irgend eine Arbeit annehmen zu können, so ist es vielleicht möglich, nach Amerika zu kommen. Nur nicht mehr nach Deutschland zurück. Wir gingen also zu Fuss nach Warschau, dann mit der Eisenbahn nach Krakau und dann nach Wien bis Innsbruck und dann nach Bludenz. Von Bludenz fuhren wir ebenfalls mit der Bahn nach Schruns und dann zu Fuss durch das Alpental gegen die Schweizergrenze. Am Montag den 20. Oktober 1941 vormittags 9 oder 10 Uhr wurden wir von einem schweiz. Zollbeamten angehalten und wussten nun, dass wir erst vorher die Grenze überschritten hatten. Wir glaubten nämlich, wir befänden uns schon länger über der Grenze. Das erste Dorf hiess St. Antönien. Dann wurden wir nach Sargans verbracht und von dort nach Luziensteig. Dort mussten wir verbleiben bis gestern 24.10.1941 nachmittags. Dann wurden wir wieder nach Sargans überstellt und dort hat man uns erklärt, wir müssten wieder nach Deutschland zurück. Wir wurden mit dem Zuge nach Buchs verbracht, es war schon dunkel. Von dort wurden wir durch zwei Heerespolizisten über die Rheinbrücke verbracht und man sagte uns, dass wir durch Liechtenstein durch nach Deutschland zurückgehen müssten. Wir mussten dann auch in der Dunkelheit eine grosse Strecke zu Fuss zurücklegen und plötzlich wurde uns erklärt, dass wir uns nun in der Nähe der Grenze befänden und wir sollen nur den Weg gerade aus gehen, dann kämen wir nach Deutschland. Als sich die beiden Heerespolizisten aber von uns getrennt hatten, haben wir uns davongeschlichen und gingen einen anderen Weg, denn wir wollten wieder die Retourrichtung, also wieder gegen die Schweiz einschlagen. Wir wollten versuchen auf einem anderen Wege in die Schweiz zu gelangen.

Wir können unter keinen Umständen nach Deutschland zurück, da wir ja unerlaubter Weise aus dem Arbeitsverhältnis ausgetreten und nach dem Ausland geflüchtet sind. Man kann sich ja, bei dem Hass der Deutschen gegen die Polen, vorstellen, was mit uns geschehen würde.

Auf dem Retourwege wurden wir dann durch einen Posten angehalten, wussten aber nicht, dass es sich um einen liechtenst. Polizist handelt und haben deshalb auch heimlich unsere Papiere vernichtet und weggeworfen. Wir hatten jede eine Identitätskarte, ausgestellt durch die deutschen Behörden in Wilna, und eine Bestätigung, dass wir medizinische Studentinnen waren. Wir sind natürlich vollständig mittellos, wollen uns aber gerne durch irgend eine Arbeit unser Auskommen verdienen. Wir haben in der Schweiz auch zwei Bekannte. Nämlich Herrn Professor Pfarrer [Charles] Journet in Freiburg und eine Polin namens Hedwig Romer in Genf, Adresse glaublich Lewri 11.

Wir ersuchen dringend, uns nicht nach Deutschland abzuschieben, lieber lassen wir uns hier erschiessen, sondern uns die Weiterreise nach der Schweiz zu ermöglichen."

N.B. Die Überstellung an den dortigen Polizeiposten erfolgt in der Annahme, dass eine illegale Abschiebung nach Deutschland keinen Erfolg haben dürfte und die beiden nach ihren glaubwürdigen Angaben aus der Schweiz kommen.

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[1] LI LA V 005/1941/1161.